Liebe im Zeichen des Nordlichts
gerechnet, dass es sich derart hinziehen würde.
Es hatte einmal eine Zeit gegeben – war das erst eine Woche her? –, in der sie gebetet hatte, es möge für immer so bleiben. Sie hatte in Addies Zimmer am Fenster gesessen und ihr vorgelesen, während es draußen dämmerte. Doch sie hatte kein Licht machen wollen, um die Stimmung nicht zu stören. Sie konnte nicht feststellen, ob Addie wach war oder schlief, las aber dennoch weiter. Und in diesem Moment hatte sie sich von ganzem Herzen gewünscht, diese Zeit würde niemals vergehen.
Das war vor einer Woche gewesen.
Nun wollte Della, dass es endlich vorbei war. In diesem Stadium war es sinnlos geworden. Es war wie ein Buch, das man bereits gelesen hatte, so dass man schon wusste, wie die Geschichte ausging. Am liebsten hätte sie die letzten Seiten bis zum Ende überblättert.
Immer wieder rückte die Schwester einen Stuhl an Addies Bett. Sie setzte sich auf die Stuhlkante, schlang die Unterarme um die Knie und neigte den Kopf leicht zur Seite. Mit einem leichten Lächeln musterte sie Addie und hielt Ausschau nach Anzeichen dafür, dass sie Schmerzen hatte.
»Bruno«, sagte Addie. »Bist du da?«
»Sie ist wach«, meldete die Schwester und streckte den Kopf zur Küchentür herein. »Sie fragt nach Ihnen.«
Bruno trat ein, nahm auf dem Stuhl der Krankenschwester Platz, stützte die Ellbogen aufs Bett und legte die Hand auf die Bettdecke über ihrem Oberschenkel.
»Bruno«, begann Addie und drehte den Kopf auf dem Kissen, um ihn ansehen zu können. »Ich habe nachgedacht.«
Sie hielt inne. Das Sprechen bereitete ihr Mühe, und er musste sich vorbeugen, um sie verstehen zu können.
»Ich habe nachgedacht«, wiederholte sie.
Ihre Stimme erstarb. Im ersten Moment glaubte Bruno, dass sie vergessen hatte, was sie sagen wollte. Doch dann fing sie noch einmal von vorne an. Es kostete sie solche Anstrengung, und sie stieß die Worte so keuchend hervor, dass es eine Qual war, ihr zuzuhören.
»Ich habe darüber nachgedacht«, sagte sie, »wie unfair es von mir ist.«
Sie verzog das Gesicht.
»Dich hier zurückzulassen. Bei meiner Familie!«
Ärgerlich auf sich selbst, schüttelte sie den Kopf.
»Unverzeihlich unfair.«
Vor Erleichterung, es ausgesprochen zu haben, erschlaffte ihre Brust, und sie schloss die Augen. Bruno senkte den Kopf und legte ihn seitlich auf ihren Bauch. Sie bewegte den Arm, so dass er seinen Hinterkopf umfasste. Als die Schwester zurückkehrte, fand sie, dass es aussah, als sei es Addie, die ihn tröstete.
Immer wieder schreckte Addie aus dem Schlaf hoch, und jedes Mal war es dieselbe Angst, die sie quälte.
Sie musste packen und ihre Sachen sortieren. Was würde sie mitnehmen, was zurücklassen? Sie musste die Wohnung ausräumen und die Bettwäsche wechseln. Hatte sie vergessen, die Mülltonne rauszustellen? Sie durfte die grüne Tonne nicht vergessen.
All das ging sie in Gedanken durch und setzte die Einzelteile langsam und sorgfältig zusammen. Sie wusste, dass alle ihre Reaktionen durch das Morphium verlangsamt waren. Inzwischen brauchte sie eine Ewigkeit, um sich alles zu überlegen.
Hugh beugte sich über sie und tätschelte ihr sanft die Hand. Seine Stimme klang seltsam.
»Sei nicht albern, Addie«, sagte er. »Du brauchst nicht zu packen.«
Und wenn ihr das klarwurde, lächelte sie ihn an. Es war jedes Mal so eine Erleichterung. Sie brauchte nichts mehr zu tun, das musste sie sich ständig vor Augen führen. Es gab nichts mehr, was sie erledigen musste.
Bruno hatte ihr zu Weihnachten eine DVD -Box von
Unser blauer Planet
geschenkt. Der Dokumentarfilm lief auf dem Flachbildschirmfernseher, den er in einer Zimmerecke aufgestellt hatte. Den Ton hatte er abgeschaltet. Man hörte nur das laute Keuchen des Luftkissenbettes, das an Meeresbrandung erinnerte. Die Vorhänge waren geschlossen, und das Zimmer war in ein flackerndes blaues Licht getaucht. Man fühlte sich hier wirklich wie unter Wasser.
Addie lag da, umgeben von wunderschönen lautlosen Fischen.
»Erinnerst du dich an die Meerjungfrau?«, fragte sie plötzlich. Ihre Stimme war erstaunlich klar.
Hugh beugte sich vor und schnaubte leise.
»Die verdammte Meerjungfrau«, erwiderte er. »Wie könnte ich die jemals vergessen?«
Bruno stand auf dem Balkon und starrte in den Nachthimmel hinein. Er rauchte eine Zigarette, obwohl er wusste, dass das nicht gut für ihn war. Na und?
Es war stockfinster. Heute Nacht schien es dunkler zu sein als sonst. Bruno
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