Liebe in groben Zügen
reine, heidnische Freude am Leben: immer noch irgendwie jung zu sein und geschickt, imstande, ein überlanges Auto durch Assisi zu lenken und auch sich selbst, ihre Geschichte mit Bühl, vor Schaden zu bewahren. Sie nahm die Treppen hinunter zur großen Basilika mit Sprüngen über die flachen Stufen, sie sah den Platz, auf dem Kasper geschrien hatte, und sah das Hotel mit dem Namen quer über der Front, ihr letztes Fenster neben dem L, sie mit dem Bauch an der Brüstung, von hinten umarmt, gehalten, erlöst. Und noch immer mehr Freude am Moment, am Dasein, als ein Versinken im Gewesenen; sie wollte über diesen Tag kommen und die nächsten Wochen, den ganzen Herbst und Winter. Sie wollte wieder den Sommer erleben, sich barfuß im Garten, sich auf dem Bug des Boots. Sie wollte neue Abende für ihre Freunde ausrichten, von interessanten Kandidaten erzählen, während Renz den Wein öffnet, einschenkt. Und sie wollte reisen, ein Reisebuch schreiben, eine Frau allein, in Marokko, in Mali. Und plötzlich auf Bühl stoßen, ein kleines Hotel aus Lehmziegeln, sein Oasenversteck. Sie wollte lieben, ganze Nachmittage lang. Aber auch miterleben, wie Katrin sich verliebt, wirklich hoffnungslos verliebt, sich auflöst, Mama, was soll ich bloß tun? Die Glocken der Basilika schlugen, als sie das Francesco betrat, sie läuteten hinter ihr her, bis auf die Toilette, die zum Hotelrestaurant gehörte, dort wusch sie sich das Gesicht – als Kind hatte sie oft geblutet, ohne es gleich zu merken, aus dem Knie, aus der Nase, Glück und Schmerz können bei ihr so zusammenliegen, dass sie einander in Strömen von Tränen aufheben.
Und mit gespülten Augen und gespültem Mund, den Autoschlüssel in der Hand, ging sie auf Zehenspitzen ins Zimmer und setzte sich zu ihrem fiebernden, in alle Decken gehüllten und im Halbdunkel hinter geschlossenen Läden nach ihr tastenden Mann. Wie spät ist es? Renz hatte Mühe zu reden, er bat sie, irgendwelche Mittel zu besorgen, die es ohne Rezept gab, gegen das Fieber, seine Gliederschmerzen, das Kopfweh. Und keinen Arzt, sagte er, das kannte sie, alle Ärzte machten ihm Angst, sogar Elfi im grünen Kittel. Und soll ich sonst noch etwas kaufen, Obst, eine Zeitung? Sie sah auf einen der Giotto-Drucke, der heilige Franz aufgebahrt, und ein weltlicher Würdenträger untersucht die Wundmale – die womöglich echt waren: Was wissen wir schon, wenn wir kaum die eigenen Wunden begreifen. Bring noch irgendeinen Vitaminsaft mit, sagte er, sein alter Glauben an alles Künstliche.
Vila stand auf und öffnete die Läden, Hier muss Luft herein! Sie beugte sich über die Fensterbrüstung, die Maße noch für kleinere Menschen von früher; vier Stockwerke tiefer das Pflaster, auf dem schon Klara gelaufen war, mit allem, was sie einstecken musste zuletzt. Ein altes hartes Pflaster und die Dauer des Falls von hier oben bis auf den Stein nur ein paar letzte Herzschläge, nicht lang genug für die Zusammenfassung des eigenen Lebens als Kurzfilm, ja nicht einmal lang genug für den Trailer dazu. Sie sah hinunter, und alles schrumpfte bei dem Gedanken an einen Sturz, als wären auch die Stunden mit Bühl kaum mehr als die Zeit, die es brauchen würde, bis man unten am Pflaster aufplatzte zu einer Masse wie der von Kasper nach dem Unfall. Also ein Vitaminsaft, sagte sie und schloss die Läden wieder und griff an Renz’ Stirn, die erschreckend heiß war; durch ihre kühlere Hand ein Erschauern seines ganzen Kopfes wie von einem Aufruhr unter der Schädeldecke – Abertausende von Bildern, die sie beide zeigen, in einer Art Pixelsturm. Wie spät ist es, fragte er noch einmal, und sie sah auf die Uhr. Es war kurz nach drei, bald machten die Geschäfte wieder auf, auch die Apotheken. Schlaf jetzt, ihr Wort im Weggehen.
EIN stiller Nachmittag in Assisi, in den Gassen oft nur ein, zwei Schwestern in Tracht, unter den Hauben auch stille Gesichter, immer mit einem Lächeln für die, die in Hosen und T-Shirt, ein offenes Hemd um die Schultern, ihnen entgegenkam, einer Spur von Nachsicht, Tochter, wir wissen Bescheid über dich, du verlangst zu viel vom Leben, selbst hier noch. Sie war über die Via San Francesco in die Oberstadt gelaufen und hatte beim Palazzo Comunale, wo Franz als junger Mann nackt vor den Bischof und die Stadt getreten war, ein Käsesandwich gegessen und anschließend in einer Farmacìa zwischen dem alten Versammlungsplatz und der nahen Basilika Santa Chiara Paracetamol und ein Thermometer, Chinaöl und den
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