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Liebe in St. Petersburg

Liebe in St. Petersburg

Titel: Liebe in St. Petersburg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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wankte in die Eingangshalle. Da wimmelte es von roten Soldaten, im Teesalon brüllte Jerschow herum. Die Koltschakarmee hatte Tobolsk umzingelt, Kavallerie umritt die roten Stellungen und gelangte tief ins Land hinein. Wo sie auftauchte, jubelte das Volk – der Kommunismus war also doch noch nicht so vollkommen in die Gehirne gedrungen …
    Der Alte ging durch die Halle, öffnete Türen und schloß sie, durchwankte einen langen Korridor und kam in das sogenannte Gartenzimmer. Hier war es still, nur Klavierspiel war zu hören. Der Mann blieb stehen, lauschte einen Augenblick lang und wischte sich über das Gesicht. Dann riß er die Tür zu dem dahinterliegenden Salon auf.
    Das Klavierspiel brach abrupt ab. Alle, die im Zimmer saßen, fuhren herum. Gregor riß seine schußbereite Pistole aus dem Gürtel. Wanda Timofejewna brüllte: »Welcher Flegel wagt es …«
    Dann erstarb ihr weiterer Satz in einem hellen Aufschrei. Grazina war aufgesprungen, hatte ihre Arme weit ausgebreitet und war auf den schmutzigen, vor Müdigkeit schwankenden alten Mann zugelaufen.
    »Väterchen!« rief sie und riß den Fremden an sich. »Papa! Du bist da, du bist endlich da! O Gott, mein Vater …«
    Wanda Timofejewna und Gregor starrten die beiden entgeistert an. Sie brauchten länger, um in diesem dreckverschmierten Mann den Grafen General Michejew wiederzuerkennen. Aber dann liefen auch sie zur Tür und umarmten Michejew.
    »Bade dich erst, Bruder!« dröhnte Wanda Timofejewna, als die ersten Wiedersehenstränen vergossen waren. »Himmel, wie siehst du aus? Kommt daher wie ein Wegelagerer! Warum ziehst du nicht mit Koltschak übers Land? Ich denke, die Weißen siegen überall?«
    Michejew saß in einem tiefen Sessel und starrte müde vor sich hin. Grazina kniete vor ihm und streichelte seine Hände.
    »Ich rühre keine Waffe mehr an«, sagte Michejew dumpf.
    »Hat man dich gesehen?« fragte Gregor an der Tür. Er hielt dort Wache, um jeden abzuwehren, der hereinkommen wollte.
    »Alle! Alle diese roten Mörder! Aber wer kennt mich noch?« Er schloß die Augen und lehnte den Kopf weit zurück. Sein verfilzter Bart zitterte.
    »Was … was ist mit Trasnakoje, Väterchen?« fragte Grazina leise. Es war die Frage, die sie zurückgehalten hatte, bis sich Michejew wieder etwas gefangen hatte. »Ich habe von Mama nichts mehr gehört …«
    »Trasnakoje …« Michejews Gesicht zuckte. »O Gott, mein Gott …«
    »Was ist mit Mama?« schrie Grazina auf. Gregor rannte zu ihr und drückte sie an sich. Sie zitterte so heftig, als sei ein Eissturm über sie hergefallen. »Väterchen … Warum sagst du nichts?«
    »Anna Petrowna …« Michejew faltete die Hände. »Gott segne sie bis in alle Ewigkeit. Sie ist tot.«
    Plötzlich weinte er. Die Tränen rannen unter seinen geschlossenen Lidern hervor und zogen Rillen in sein staubiges Gesicht. Gregor und Wanda Timofejewna starrten ihn an. Er hat sie wirklich geliebt, dachten sie erschüttert. Er kann weinen, der große harte General Michejew kann weinen – um eine Frau, die ihn vielleicht gehaßt hatte. Wer wußte schon, wie sehr er sie geliebt hatte. Er war immer nur der General, der große Herr – um sein Herz hatte sich nie einer gekümmert …
    »Tot …«, sagte Grazina dumpf. Sie nahm die Nachricht ruhiger auf, als Gregor gefürchtet hatte. Vielleicht hatte sie die ganze Zeit insgeheim damit gerechnet. Jetzt stand sie sehr gerade vor Michejew und ballte die Fäuste. Sie sah seine Tränen. Ja, sie hatte es immer gewußt, daß ihr Vater in seinem Herzen Anna Petrowna wie eine Heilige trug.
    »Wie … wie ist sie gestorben? Sag alles ohne Umschweife, Väterchen.«
    Michejew erstarrte, als er den grölenden Gesang der Männer der Roten Armee hörte. Dann öffnete er die Augen. Neue Truppen waren angekommen, um den Riegel gegen die Koltschakarmee am Tobol zu verstärken. Jerschow hatte sie begrüßt. Nun sangen sie die Internationale.
    Grazina, Wanda Timofejewna und Gregor beobachteten den alten Mann erschrocken, der schwer atmete.
    »Da …«, sagte Michejew heiser und streckte den Arm aus. »Da! Hörst du sie? Daran ist deine Mutter gestorben! Die Revolution hat sie aufgefressen!« Er sank in den Sessel zurück und weinte von neuem. »Ihre Revolution, an die sie so fest geglaubt hat!« Er schluchzte und schlug die schmutzigen Hände vors Gesicht. »Die Roten haben sie von meinen Bären zerreißen lassen …«

XIV
    Der 4. Dezember 1918 hatte mit leisem Schneefall begonnen. Kein Wind wehte, lautlos

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