Liebe in St. Petersburg
kamen Kuriere, man legte eine Telefonleitung, von allen Seiten trafen desertierte Soldaten ein, die ihre gefangengenommenen Offiziere mitbrachten und Jerschow übergaben – gewissermaßen als Beitrittsgeschenk. Und Jerschow nahm seinen Stempel und haute ihn auf ein Stück Papier.
Verurteilt zum Tode!
Nur: Es wurde nie einer erschossen. Oder aufgehängt, erwürgt, ertränkt oder mit einem Genickschuß in eine Grube befördert. Übrigens, eine neue Methode der Bolschewisten: der Genickschuß. So sicher wie die Guillotine in Frankreich. Daß jemals einer einen Genickschuß überlebt hat, ist unbekannt.
Jerschow also stempelte zwar die Todesurteile, stapelte sie, legte sie in eine rote Mappe – und am Abend kam Gregor in das Revolutionsbüro und streckte nur schweigend die Hand aus. Widerwillig händigte ihm Jerschow dann die rote Mappe aus.
»Wenn das bekannt wird, Gregorij«, sagte er einmal, »bekomme ich einen Genickschuß. Von meinen eigenen Genossen!«
»Und wenn du sie alle erschießen läßt, wird es dir ergehen wie dem Zaren Boris Godunow: Das Heer der Toten wird dich wahnsinnig machen! Du wirst nicht mehr schlafen können! Du bist kein potentieller Mörder, Iwan Iwanowitsch!«
»Aber ich bin ein schlechter Revolutionär!« rief Jerschow verzweifelt. »Sieh dir Tujan, den Popen, an! Was macht er? Man sagt, er sei bei einer neuen Armee, die Admiral Koltschak führt und die dem Zaren treu ergeben ist. Eine ›Weiße Armee‹, wie sie sich nennt. Er schwingt das Kreuz und macht ihnen Mut! Und ich?«
»Du unterschreibst Todesurteile! Ist das nicht genug?« Gregor klemmte sich die rote Mappe unter den Arm und verließ das Revolutionsbüro. Im großen Eßzimmer ging er an den offenen Kamin, schürte die Flammen höher und ließ die Todesurteile ins Feuer flattern. Dort verbrannten sie sehr schnell.
So geschah es jeden Tag, und Jerschow dachte darüber nach, ob es nicht am besten sei, wenn er flüchtete. Ab und zu fuhr er mit einem beschlagnahmten Militärauto nach Tobolsk oder Tjumen, nahm dort seine Macht als Rätevorsitzender des Bezirks wahr, aber merkwürdigerweise kam er immer wieder nach Nowo Prassna zurück, zu Gregor, Grazina und Tante Wanda. Und er bezog wieder den Teesalon, um zu regieren …
»Es wird viel, viel Blut fließen in Rußland«, sagte er einmal nach seiner Rückkehr aus Tobolsk. »Jetzt hat auch General Denikin eine ›Weiße Armee‹ gegründet und macht Jagd auf die Rote Armee. Aber er hat keine Chance.«
Der Winter kam, wieder lag alles unter einer dichten Schneedecke, der Tobol war – wie immer – zugefroren, die Männer fischten in den Eislöchern und die Frauen versorgten das Vieh.
An einem solchen klaren Wintertag galoppierte eine Kosakenhorde nach Nowo Prassna. Es mochten etwa hundert Reiter sein, mit roten Wimpeln an den Lanzen, roten Armbinden, in dicken gesteppten Jacken und Hosen. Der Anführer hieß Dolgan Stepanowitsch Zirskij. Das sprach sich schnell herum. Nicht, weil er sich als höflicher Mensch überall vorstellte, sondern weil er seine eigene Art hatte, allen seinen Namen einzuprägen. Er hatte sich einen eisernen Stempel an einem langen Stiel anfertigen lassen – so einen, mit dem man Pferden die Brandzeichen ins Fell glüht. Den ließ er im offenen Feuer rot werden, sammelte die jungen Frauen der Orte ein, vergnügte sich mit ihnen und brannte dann seinen Namen auf die Gesäße. Aber nicht nur den Weibchen, auch den Starosten der Dörfer, den biederen Handwerkern in den Kleinstädten, sogar den neuen Verwaltungskommissaren der Bolschewisten und den Dorfsowjets, der neuesten Einrichtung, dampfte Zirskij seinen Namen in die blanke Haut.
Nun kam diese Strafe Gottes über Nowo Prassna. Jerschow rief zum Kampf auf. »Überall gibt es Kriminelle, die eine große Idee für ihre niederen Instinkte ausnützen. Sie auszumerzen, gehört auch zu den Pflichten einer guten Revolution!«
Es wurde eine blutige Schlacht am Ufer des Tobol. Jerschow hatte aus Tjumen Verstärkung kommen lassen. Von drei Seiten wurden die Kosaken unter Feuer genommen, und vor allem um eine Art Schützengraben kamen die Kosaken nicht herum … Hier lagen Gregor, Luschek, Tschugarin und zwölf Scharfschützen – und Wanda Timofejewna, die man erst entdeckte, als es zu spät war, sie mit Gewalt ins Haus zurückzubringen.
In der Abenddämmerung wurde dann Zirskij so schwer verwundet, daß man ihn wegschleifte, in einen kleinen Birkenwald, wo er eine Stunde später starb. Damit zerbrach der
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