Liebe in Zartbitter
Businneren höre ihn röcheln und erinnere mich wieder an seine Kopfverletzung.
Vielleicht habe ich ihm zu viel zugemutet. Ich werde ihn da herausziehen.
Das ist leicht gesagt, denn er erweist sich als viel schwerer als erwartet. Deshalb komme ich erst dazu, ihn genauer zu betrachten, als ich ihn endlich neben mir ins Gras bugsiert habe.
Wie gut, dass ich schon sitze, sonst hätte mich der Anblick bestimmt umgehauen: Vor mir liegt mit bleichem Gesicht Monsieur André de Marville.
Ich schaue mich um. Es ist Tag. Früher Vormittag, schätze ich, aber weit und breit keine Menschenseele in Sicht. Der Bus steht einsam und verlassen am Rande eines Wäldchens. Auf der anderen Seite befindet sich ein Schrottplatz. Nein, eher ein Autofriedhof.
Ich mache einen Berg rostiger Autoteile und eine Mauer aus Fahrzeugreifen aus. Gearbeitet wird hier jedenfalls nicht, ringsum herrscht Stille.
Was soll ich jetzt nur tun? Wir sind zwar dem Bauch des Busses entkommen, dafür in einer Einöde ausgesetzt.
Ich spüre, wie meine Zunge am Gaumen klebt. Wir brauchen etwas zu trinken.
Obwohl ich weiß, dass es sinnlos ist, rüttle ich am Einstieg des Busses. Fritze hat dort einen schönen Vorrat an Mineralwasser, Apfelschorle und Säften gebunkert. Doch wie soll ich ohne Schlüssel an ihn herankommen? Diese Tür bekomme ich nicht auf.
Ich werfe einen Blick in den Kofferraum. Bis auf eine Werkzeugkiste ist er leer. Ich öffne sie, finde Zangen, Schraubenschlüssel, Öltücher und andere für mich nutzlose Utensilien.
Sinnlos, damit zu versuchen, die Tür aufzubrechen. Ich wende mich wieder dem Vize-Präsidenten zu. Als ich seinen Schlips lockere und die obersten Knöpfe seines Hemdes öffne, damit er leichter atmen kann, fällt mir sein Handy in die Hände.
Zu früh gefreut, es gibt keinen Ton von sich: Der Akku ist leer.
Nahe daran, zu verzagen, lasse ich mich auf den grasbedeckten Boden zurücksinken. Ich bin mit meinem Latein am Ende.
Wie zum Hohn bricht jetzt die Sonne durch die Wolken. Ihre Strahlen kitzeln meine Nase, spiegeln sich in den Scheiben des Reisebusses.
Das bringt mich auf eine letzte, verzweifelte Idee.
Lena, du wirst doch nicht etwa?
Doch, ich werde!
Nach einem besorgtem Blick auf meinen reglos im Gras liegenden Leidensgefährten, von dem ich im Augenblick keine Hilfe zu erwarten habe, entferne ich mich in Richtung Autofriedhof: Reifen holen!
XXXI.
Der Wachmann am Eingang des Jaques-Delors-Flügels kann sich ein Hochziehen der Augenbrauen nicht verkneifen, als de Marvilles Assistent seinen Redeschwall einstellt. Schon wieder ist es die Mademoiselle aus Deutschland, die Schwierigkeiten bereitet.
Obwohl täglich Hunderte von Personen – Besucher, Angestellte und Politiker – die Sicherheitsschleuse passieren, hat er sich das Gesicht der zierlichen jungen Frau mit dem kupferfarbenen Wuschelkopf eingeprägt. Es geschieht ja nicht alle Tage, dass jemand, ohne sich ausweisen zu können, in das Gebäude gelangt – ja von einem Politiker regelrecht hineingezerrt wird.
Heute hat sie zwar ihre Legitimation um den Hals, doch der Herr, der darauf besteht, sie zu begleiten, ist weder angemeldet, noch kann er sich auf einen Auftrag der deutschen Vertretung berufen. Und sie weigert sich, dem Assistenten des Vize-Präsidenten ohne den Begleiter zu folgen.
Was soll er machen? Der Mann hat seinen Pass vorgewiesen und trägt weder ein verdächtiges Köfferchen bei sich, noch sieht er wie ein Terrorist aus – aber Vorschrift ist nun mal Vorschrift.
„Auf keinen Fall trenne ich mich von diesem Herrn“, versichert Elena Boyer hartnäckig.
Seit ihr Pascha von der Doppelgängerin und deren Verschwinden erzählt hat, vertraut sie ängstlich seinem Schutz. Nur seinem.
Der Assistent gestikuliert mit rotem Kopf, doch sie lässt sich nicht umstimmen.
„Non!“, beharrt sie und schüttelt das hübsche Köpfchen.
Als er einsieht, dass all seine Argumente erfolglos an ihr abprallen, gibt er nach.
„Wenn Sie ihn nicht durchlassen, gefährden Sie das Gelingen der Anhörung vor der ECON-Expertengruppe“, versucht er jetzt bei dem Wachmann sein Glück. „Ich verbürge mich für den Mann. Sobald er die Schleuse passiert hat, lassen wir ihn keinen Moment aus den Augen“, versichert er. „Wenn Sie deswegen irgendeinen Ärger bekommen sollten, wird Monsieur de Marville das klären. Ehrenwort!“
In Anbetracht der Schlange, die hinter dem Paar wartet und langsam ungeduldig wird, lässt sich Pierre, der Wachmann,
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