Liebe in Zartbitter
den Vortrag auf der angesetzten Tagung hält. Dort werde ich irgendwann wohl oder übel Farbe bekennen müssen, aber, ehrlich gesagt, ist mir dabei diese Elena Boyer völlig gleichgültig. Was kann ich schließlich dafür, dass man mich mit ihr verwechselt hat?
Ich fühle mich leicht und frei, wie schwebend.
Vor dem Hotel angekommen, folge ich André zur Rezeption. Während er nach einem Telefon fragt, verlange ich leise, damit er es nicht versteht, meinen Schlüssel.
„Bitte beeilen Sie sich!“, ruft er mir nach, als ich in Richtung Fahrstuhl verschwinde.
XXXIII.
„Kommen Sie schnell, Mademoiselle Lena, dann schaffen wir es noch!“
Wie am Tag zuvor zerrt mich André – oder muss ich jetzt wieder Monsieur de Marville zu ihm sagen? - hinter sich her, als wir die Treppe zu einem der vielen Eingänge des Europa-Parlaments hinauf hasten.
Liegen wir zeitlich tatsächlich gut im Rennen? Schön, wenn ihn das freut.
Das schwebende Gefühl flaut mehr und mehr ab, ich beginne, mich unbehaglich zu fühlen. Aus mehreren Gründen. Einerseits knurrt mir noch immer der Magen, zum Zweiten wage ich kaum, Luft zu holen, weil ich befürchte, dass sonst der Reißverschluss meines Rockes platzt oder die oberen Knöpfe der Bluse abspringen.
Als ich nämlich vor dem Hotelzimmer gestanden und vergeblich versucht habe, die Tür zu öffnen, ist mir blitzartig eingefallen, dass mir ja der Vermummte meinen Schlüssel abgenommen hat. Weil der nicht am Brett hing, hat der Portier wohl automatisch den von Mademoiselle Boyers Suite herausgegeben. Um kein Aufsehen zu erregen, ist mir nichts anderes übrig geblieben, als mich dort frisch zu machen und mit den Sachen meiner Doppelgängerin auszustatten. Doch die trägt XS, während meine Maße zwischen Größe S und M schwanken.
Mit sehr viel Mühe habe ich im Schrankkoffer von Mademoiselle Boyer etwas gefunden, das dem Anlass angemessen ist und in das ich gerade so hineinpasse. Die offen stehende Blazer-Jacke kaschiert das Problem ein wenig. Mit Erleichterung habe ich festgestellt, dass wir wenigstens dieselbe Schuhgröße tragen.
Der Uniformierte am Einlass wirft uns einen so erstaunten Blick zu, als sei er mit Geschöpfen vom anderen Stern konfrontiert.
„Monsieur de Marville, wo haben Sie nur gesteckt? Man hat Sie im ganzen Gebäude vergeblich gesucht und erhöhte Sicherheit angeordnet. Ihr Sekretär war einem Nervenzusammenbruch nahe als er die Mademoiselle vor einer halben Stunde abgeholt hat.“
Erst jetzt nimmt er mich genauer in Augenschein.
„Aber, das ist doch nicht möglich! Sie sind doch gerade erst mit ihrem unangemeldeten Begleiter...“
„Reden Sie keinen Unsinn, Pierre, und geben Sie ihr die Legitimation!“, unterbricht ihn de Marville ungeduldig. „Mademoiselle Boyer...“ – bei diesem Namen zucke ich unwillkürlich zusammen – „... befand sich die ganze Zeit in meiner Gesellschaft, und nun müssen wir schnellstens in den Konferenzsaal. Wir sind bereits zwei Minuten überfällig!“
Der Wachmann sieht ihn hilflos an, nimmt die Brille vom Gesicht, putzt sie, setzt sie sich wieder auf und betrachtet mich erneut.
„Ich verstehe nicht...“, stammelt er.
„Wenn die Kennkarte nicht da ist, muss es ohne gehen. Ich verbürge mich für die Dame, ...!“
Wie ein Déjà-vu erlebe ich die nachfolgende Szene.
Schließlich sind wir durch die Schleuse und mit der Rolltreppe auf dem Weg nach oben. Obwohl es langsam brenzlig wird, steigt mir ein Kichern den Hals hinauf.
Leise öffnet der Vize-Präsident die Tür zum Konferenzsaal.
Der ist gut gefüllt. Auf den Plätzen der Zuhörer sitzen, wie ich unschwer erkennen kann, Vertreter der verschiedenen Nationen.
Die Anhörung hat noch nicht begonnen, das Rednerpult ist unbesetzt.
In meinem Rücken spüre ich Andrés auffordernden Blick und – statt mich unbemerkt im Hintergrund zu halten – gehe ich automatisch darauf zu, als müsse es so sein. Die Quittung für mein unbedachtes Handeln erhalte ich sofort.
„Begrüßen Sie mit mir, Mademoiselle Elena Boyer, Mitarbeiterin im Finanzministerium der Bundesrepublik Deutschland. Sie wird uns mit den neuesten Fakten zum Euro-Rettungsschirm bekannt machen“, vernehme ich eine Stimme. Eine Dame im Präsidium nickt mir aufmunternd zu. „Sie können beginnen.“
Mit einem Mal bin ich stocknüchtern und möchte auf der Stelle im Erdboden versinken. Jetzt ist die Katastrophe, vor der ich mich insgeheim seit dem ersten Betreten des EU-Parlaments gefürchtet
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