Liebe kommt auf sanften Pfoten
würde sie in den Arm nehmen, und wich einen Schritt zurück. Sie wollte nicht unhöflich erscheinen, doch die vielen hilfreichen, gut gemeinten Sätze, die Menschen in einer solchen Situation sagten, hatten die Kraft, alles zu zerstören. Sie war nicht »tapfer«, sie war nicht mehr »noch so jung«, und sie war offen gestanden nicht der Meinung, dass »die Zeit alle Wunden heilte«. Nach acht Monaten ohne Ben fühlte sie sich immer noch wie gelähmt, was schon eine gewaltige Verbesserung war, da sie kurz nach seinem Tod das Gefühl gehabt hatte, bei lebendigem Leib gehäutet worden zu sein. Dennoch kam es ihr vor, als könne man ihren Zustand kaum als »Leben« bezeichnen.
»Nein, ist es nicht«, erwiderte Mrs Hinchley. »Es ist nicht gut. Aber irgendwann wird es besser werden.«
Obwohl sie dies insgeheim bezweifelte und ihr die Tränen kamen, zwang sich Juliet zu einem Lächeln.
Die Ratgeberbücher zur Selbsthilfe im Fall eines solchen Verlusts, die von all denjenigen gesendet worden waren, die keine Blumen geschickt hatten, behaupteten, dass es ein Jahr dauern würde, um den Tod eines geliebten Menschen zu überwinden. Juliet hatte einen Kalender in der Küche hängen, und jeden Abend, nachdem sie den Tag mit Fernsehen überstanden hatte, strich sie einen weiteren Tag durch. Bis zum dreizehnten Oktober waren es noch vier Seiten, doch das Datum ragte schon düster wie eine Ziellinie vor ihr auf; dies war ein Tag, vor dem es ihr graute, den sie aber andererseits herbeisehnte.
Hoffentlich würde also am dreizehnten Oktober dieser schwere Mantel der Trauer von ihren Schultern genommen werden, sodass sie endlich wieder das Gefühl haben würde, atmen zu können. Im Augenblick kam ihr dies noch vollkommen unmöglich vor, doch Juliet wollte den Büchern gern Glauben schenken.
Mrs Hinchley tätschelte ihr den Arm. »Ihr Ben war ein wunderbarer Gärtner. Wenn er sich genauso sorgsam um Sie gekümmert hat wie um meine Rosen, dann müssen Sie das Gefühl gehabt haben, für ihn das wichtigste Mädchen auf der ganzen Welt zu sein.«
Juliet biss sich auf die Lippe. Genau dieses Gefühl hatte Ben ihr gegeben: umsorgt und besonders – aus einem jungen Mädchen zu der Frau herangewachsen, die sie nun war. Und jetzt war sie niemand und gehörte zu niemandem mehr. Sie trudelte dahin wie jene Satelliten im All, die aus ihrer normalen Umlaufbahn geraten waren.
Jetzt komm schon , dachte sie. Das solltest du eigentlich hinter dir haben.
»Tut mir leid«, entgegnete sie und putzte sich die Nase. »Ich gehe mit dem Hund meiner Mutter Gassi. Wir müssen jetzt leider zurück.«
»Es freut mich für Sie, dass Sie unter Menschen gehen und aktiv werden«, antwortete die alte Dame. »Frische Luft ist ein gutes Heilmittel.«
Na, das ist neu, stellte Juliet fest. Das hatte sie noch nicht gehört.
Sie zog an Cocos Leine und setzte ein Lächeln auf, bevor sie dann schneller zurückeilten, als Coco es normalerweise gewohnt war, sodass sie hechelnd Schritt halten musste.
»Du bist menschenfreundlicher als ich, Minton«, erklärte Juliet, nachdem sie außer Hörweite waren. »Hat Daddy eine hübsche Veranda gebaut? Gab es vielleicht irgendetwas, was Mrs Hinchley unter der Veranda vergraben haben wollte? Sollten wir da mal genauer nachhaken?«
Mit Minton zu reden verhinderte, dass Juliet wahnsinnig wurde. Ihm konnte sie stundenlang von Ben erzählen, ohne dass er das gleiche betroffene Gesicht machte wie alle anderen – jener Gesichtsausdruck, der das Gespräch bald dahin brachte, wie toll Ben gewesen war und welch eine wunderbare Ehe sie beide geführt haben mussten. Doch zwischendurch gab es auch immer wieder Zeiten, in denen sie sich damit noch schlechter fühlte. Nur Minton ließ ihr Gejammer zu, wie egoistisch Ben gewesen war, zu sterben und sie hier allein zurückzulassen mit einem halb fertigen Haus und einer zerstörten Zukunft.
Begeistert zog Coco plötzlich in eine Richtung, und Juliet schaute auf, wohin sie lief.
Eine rundliche Gestalt in einer roten Fleeceweste und einer praktischen marineblauen Stoffhose eilte an dem schmuckvoll verzierten Konzertpavillon vorbei und kam auf sie zugelaufen. Dabei schob diese Person einen Buggy, in dem ein kleiner Junge mit Wuschelkopf und Latzhose saß. Sie winkte enthusiastisch.
»Das ist Oma Di«, stellte Juliet fest. »Ich fasse es nicht. Sie will uns kontrollieren!«
Minton wollte sich dazu lieber nicht äußern.
Louise hatte während Tobys erstem Lebensjahr eine völlig neue Art
Weitere Kostenlose Bücher