Liebe kommt auf sanften Pfoten
vorn zur Straße hinaus war luftig und hell, eine Glyzinie schlängelte sich an den Ecken des Fensterrahmens nach oben. Von dem Zimmer nach hinten hinaus hatte man einen wunderschönen Blick auf den Garten, und sie hatte den Sessel so gedreht, dass sie von dort aus das Rosenbeet und die Obstbüsche im Blick hatte, die Ben für sie gepflanzt hatte.
Juliet baute ihre Ausstattung auf der breiten Armlehne des Sessels auf: eine Tasse Tee, die Fernbedienung für den CD-Spieler (im Gerät selbst befand sich schon eine CD mit Musik, die sie an Ben erinnerte), das Fotoalbum mit den Bildern ihrer Flitterwochen in New York und große weiße Taschentücher. Ihr Vater hatte stets ein frisches Stofftaschentuch dabei und reichte es ihr, wenn ihr die Tränen kamen, sodass sie nun eine hübsche Auswahl an Stofftaschentüchern besaß. Er wollte sie auch nie zurückbekommen.
Dies war ihre Trauerstunde, die ihre Therapeutin, zu der Diane sie vor einigen Monaten geschleppt hatte, ihr dringend ans Herz gelegt hatte. Sie sollte als eine Art »Heilungstaktik« dienen, bei der sich all ihre aufwühlenden Gefühle in einem erschöpfenden Tränenfluss konzentrieren sollten, anstatt sich über den ganzen Tag zu verteilen und sie immer weiter in dieses Netz der Trauer zu verstricken. Sich selbst so konkret mit all den intensivsten Erinnerungen an Ben und ihr verlorenes Leben zu konfrontieren sollte eigentlich nach und nach die Wirkung jedes Fotos und Liedes, jedes T-Shirts und jeder Postkarte mindern, bis das normale Leben »realer« wurde als das vergangene Leben, das sie sich zurückwünschte. Juliet war sich nicht sicher, ob dieser Plan jemals aufgehen würde.
Die Gegenstände, die sie zusammengetragen hatte, verloren nämlich keineswegs ihre Macht dazu, sie sofort in Tränen ausbrechen zu lassen. Sie hatte sogar noch ein grünes Polo-Shirt von Ben gefunden, das tatsächlich nach ihm duftete, doch nachdem sie es herausgeholt und ihre Tränen darauf vergossen hatte, roch es mittlerweile mehr nach ihr als nach ihm, weshalb sie es zur Sicherheit schnell wieder wie eine heilige Reliquie in ihrem Schrank versteckt hatte. Jedoch schienen insbesondere bei der Musik Klauen an ihrer Brust zu zerren – angefangen an ihrem Hals, bevor sie dann langsam mit jedem Atemzug an ihrer Brust zu kratzen schienen. Mittlerweile hatte sie jedoch eher das Gefühl, Ben zu verraten, wenn sie ihre Trauer zu ihrem eigenen Nutzen auf überschaubare Zeitpunkte begrenzte.
Juliet drückte auf »Play«, und sofort durchfluteten die ersten Takte von Coldplays Album X&Y das Zimmer wie das Orgelspiel beim Einzug in die Kirche. Vorsichtig schlug sie das Fotoalbum auf und schob die erste Seite des altmodischen Seidenpapiers beiseite, sodass darunter ein Bild von Ben zum Vorschein kam. Darauf stand er mit einem »Just Married«-Aufkleber auf seinem alten abgenutzten Rucksack draußen vor dem JFK-Flughafen. Für beide war es das erste Mal gewesen, dass sie nach Amerika geflogen waren. Ein Abenteuer. Sie hatten sich geschworen, zu ihrer Silberhochzeit wieder hinzufliegen und dann in dem noblen Hotel zu übernachten, in dem sie sich zu diesem Zeitpunkt nur ein Getränk an der Bar hatten leisten können.
Eine dicke Träne kullerte ihr am Kinn entlang. Juliet wischte sie schnell weg, bevor sie auf die Albumseite hinuntertropfte. Ben hatte lachen müssen, als sie mit der Speicherkarte aus seiner Digitalkamera zum Drogeriemarkt gelaufen war. Doch dies war genau das, was Juliet beschäftigte; etwas so Kleines, das so schnell verloren gehen konnte, war einfach nicht geeignet, um ihre kostbaren Erinnerungen aufzubewahren. Sie wollte den gedruckten Beweis in Händen halten, mit altmodischen Fotoecken aufgeklebt, von Seidenpapier geschützt, weil ihre beinahe schon altmodische Liebe die Liebe fürs Leben war.
»Aber wir haben die Bilder doch hier in unserem Kopf«, hatte Ben beharrt. Irgendwie stimmte das ja auch. Aber Ben war jetzt fort, und mit ihm die andere Hälfte ihrer Flitterwochen.
Die Therapeutin lag falsch, dachte Juliet und zwang sich dazu, die Seite umzublättern. Es fiel ihr immer schwerer, sich auf den Bildern anzuschauen, wie glücklich sie einmal gewesen waren. Denn jetzt, nach acht Monaten, akzeptierte sie endlich die Tatsache, dass Ben definitiv nicht mehr zurückkommen würde. Dies war ihr in einer schlaflosen Nacht klar geworden, als habe ihr Verstand nur darauf gewartet, ihr dies vor Augen zu führen. Als würde sie über ihrem Körper schweben, hatte sie ihre
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