Liebe lieber lebenslänglich: Roman (German Edition)
Lage, die Welt auszublenden und Dad zu lauschen, während er mir Amazing Grace vorsang.
Dann fuhr ich zu diesem großen Gesangswettbewerb nach Manchester, und Ruth Roberts stand auf der Bühne und wollte den Song vortragen. Ich konnte sie nicht singen lassen, oder besser gesagt, ich hatte Angst, dann vielleicht Dads Stimme in meinem Kopf, die Amazing Grace sang, nicht mehr hören zu können und stattdessen Ruth Roberts. Also schrie ich und schrie und schrie. Ich weiß jetzt, dass das der Grund ist, aus dem ich seit Jahren kein Radio mehr höre – ich will die geringste Möglichkeit ausschalten, dass ich eine andere Stimme dieses Lied singen höre.
Ich muss jetzt loslassen. Ich werde dieses Lied hören, und ich werde es wieder singen, weil ich weiß, dass Dad sich das gewünscht hätte.
81
»Bist du bereit?«, flüstert Anton.
»Ja, und du?«
»Ja.« Er lächelt. Dann blickt er auf seine zitternde Hand. »Na ja, einigermaßen.«
Ich nehme die zitternde Hand in meine eigene.
»Und drei, zwei, eins«, formt der Aufnahmeleiter nachdrücklich mit den Lippen.
Über die Lautsprecheranlage verkündet eine fröhliche männliche Stimme: »Und nun … Mr. Anton James und Miss Gracie Flowers.«
Der Aufnahmeleiter legt uns beiden je eine Hand auf den Rücken und gibt uns einen leichten Schubs in Richtung Bühne. Das Publikum klatscht und pfeift. Wir gehen zu unseren Mikrofonen, die einen Meter auseinanderstehen. Ich schaue beim Gehen auf den Boden. Anton erreicht als Erster sein Mikrofon, und unsere Hände lösen sich. Ich kann immer noch nicht aufschauen. Als ich vor meinem Mikrofon stehe, klammere ich mich mit beiden Händen daran fest und hoffe, dass keiner mitbekommt, dass meine Knie unter dem Kleid zittern. Meine Hände zittern auch, was das Mikrofon zum Wackeln bringt. Ich lasse es los. Eine Jury aus sechs Personen sitzt an einem langen Tisch vor der Bühne. Rod Stewart ist eine davon, und auch die restlichen fünf sind musikalische Größen. Ich halte die Augen auf den Boden gesenkt.
»Anton«, sagt eine Stimme vom Jurorentisch. »Es freut uns, dass du wieder da bist.«
»Danke, dass ich wieder hier sein darf.«
Es gibt ein paar begeisterte Pfiffe aus dem Publikum.
»Und du hast heute Abend eine neue Gesangspartnerin mitgebracht.«
»Ja, Gracie Flowers.«
Ich weiß, ich sollte den Kopf heben, aber ich habe zu viel Angst.
»Hallo, Grace«, sagt eine Frauenstimme vom Jurorentisch. Ich blicke vorsichtig in die Richtung, aus der die Stimme kommt.
»Hallo«, sage ich.
Meine schüchterne, verängstigte Stimme geht durch das Mikrofon und kommt heraus wie die eines Kleinkinds, das sich gerade in die Hose macht. Das Publikum lacht. Ich sehe wieder auf meine Zehenspitzen.
»Grace Flowers.« Jetzt spricht ein Mann mit mir. Ich blinzle zu ihm hinüber, und das Publikum lacht wieder.
»Die Tochter von Camille und Rosemary Flowers?«
»Äh … ja, Sir.«
Plötzlich brandet im Publikum Beifall auf für meine Mutter und meinen Vater. Ich sehe nun zu den schemenhaften Gestalten im Saal, die meine Eltern bejubeln, und ich lächle. Die Arschlöcher lachen mich wieder aus.
»Ich habe gehofft, dich eines Tages singen zu hören, Grace«, sagt der Mann.
Ich weiß nicht, wer er ist, und ich weiß nicht, warum er das sagt.
»Danke«, murmle ich in das Mikrofon.
»Und, Anton, welchen Song werdet ihr für uns singen?«
» Mr. Bojangles «, antwortet er.
Es gibt vereinzelte Jubelrufe und noch mehr Pfiffe.
»Das war der Lieblingssong von Gracies Vater.«
Ich werfe rasch einen Blick zu Anton, der mich anlächelt.
»Seid ihr bereit?«, fragt die Jurorin.
Oje, ich muss den Takt vorgeben. Verdammte Scheiße, meine Knie, meine Hände. Ich will den Kopf nicht heben. Ich hatte noch nie solches Lampenfieber. Ich atme tief durch und nicke. Das ist das Signal, das Playback zu starten. Die Musik beginnt, aber es geht so schnell. Ich habe genickt, ich habe das Startsignal gegeben, als die Musik spielt, verpasse ich jedoch meinen Einsatz. Mein Atem geht plötzlich sehr schnell. Ich habe den Einsatz vermasselt. Ich sehe Anton an, und er zuckt kurz zusammen. Ich frage mich, ob ich zur nächsten Strophe springen soll. Aber ich kann die erste Strophe nicht auslassen. Es ist eine Geschichte, und jeder kennt das Lied.
»Äh … sorry.« Ich hebe die Hand zu dem Mann am Playback. »Tut mir leid, ich habe meinen Einsatz verpasst. Mein Fehler. Tut mir wirklich sehr leid.«
Die wilden Pfiffe und das Gelächter im Publikum sind verstummt,
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