Liebe lieber lebenslänglich: Roman (German Edition)
sagen möchten und was der Grund ist, warum ich meinen Sohn heute Morgen hierher gebeten habe. Ich habe gestern Abend um Rosemarys Hand angehalten, und sie hat mich zum glücklichsten Mann der Welt gemacht, indem sie Ja gesagt hat.«
»Ah«, kreischt Wendy. »Herzlichen Glückwunsch!«
»Gute Arbeit«, sagt Posh Boy und schüttelt seinem Vater die Hand, bevor er meine Mutter auf die Wange küsst.
Ich gehe aus dem Zimmer in den Flur. Ich kriege das noch nicht verarbeitet. Wendy folgt mir.
»Was ist?«, fragt sie leise.
»Meine Mutter hat eine Schraube locker. Sie kann nicht heiraten!«, zische ich.
»Sprechen Sie nicht so von Ihrer Mutter.«
Es ist John senior, mein zukünftiger Stiefvater, und er meckert jetzt schon mit mir. Er kommt heraus in den Flur und zieht die Tür hinter sich zu.
»Sie kennen sie doch kaum!«, wende ich ein.
»Grace, ich kenne Ihre Mutter nun seit ein paar Monaten. Seit meinem ersten Besuch hier, als ich ihre Bekanntschaft machte, habe ich viel Zeit mit ihr verbracht und sie besser kennengelernt. Ja, sie ist zerbrechlich. Das ist mir durchaus bewusst. Aber ich für meinen Teil habe auch enorme Fortschritte gesehen. Enorme. Ich möchte ihr helfen. Wir gehen beide sehenden Auges in diese Ehe, Grace.«
Einerseits möchte ich ihm widersprechen, aber er hat Recht. Mum geht es wirklich viel besser. Als sie mich nach meiner Fehlgeburt im Krankenhaus besuchte, war sie die Starke, und auch wenn der Kredit für sie unangenehme Folgen hatte, traf sie wenigstens eine bewusste Entscheidung, etwas, was sie seit Jahren nicht getan hat. Ich nicke ihm zu.
»Tut mir leid.«
»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Das muss ein ziemlicher Schock sein.«
»Ja.«
Er kommt mit ausgebreiteten Armen auf mich zu – oje, ich weiß nicht, ob ich dafür schon bereit bin – und umschlingt mich. Und überraschenderweise, weil ich damit ganz bestimmt nicht gerechnet habe, gefällt es mir. Seine Umarmung ist nicht zu bärenartig oder zu plump. Sie ist vorsichtig und freundlich und verleiht mir das Gefühl, beschützt zu werden.
»Grace«, sagt er.
Er hält mich fest, und etwas an seinem weichen Unterton, mit dem er meinen Namen ausspricht, erinnert mich daran, dass seine erste Frau, Posh Boys Mutter, auch Grace hieß. Ich hoffe, sie lächelt heute zu uns herab.
Nachdem wir uns voneinander gelöst haben, öffnet er mir die Tür zu meinem alten Schlafzimmer. Mum hebt erwartungsvoll den Kopf, und ich sehe ihr an, wie sehr sie sich meine Zustimmung wünscht, wie viel es ihr bedeutet. Ich lächle, und es ist nicht gezwungen. Tatsächlich fällt mir das Lächeln ziemlich leicht, weil ich weiß, dass dieser große, reiche Mann mit den schwieligen Händen meine Mutter verehren wird, und das ist alles, was ich mir wünsche.
Das Wort »Champagner« fällt, und wir gehen alle nach unten.
»Mein ganzes Leben lang habe ich mir einen Bruder gewünscht, und jetzt kriege ich ausgerechnet dich«, fauche ich Posh Boy zu.
»Ich habe meine Stiefschwester flachgelegt.« Er lächelt. »Das finde ich ziemlich cool.«
80
»Okay, Ruthie Roberts singt Amazing Grace , in zwei Minuten geht’s los«, ruft der Aufnahmeleiter.
»Anton«, flüstere ich. Wir sitzen nebeneinander hinter den Kulissen der riesigen Bühne.
»Alles in Ordnung?«
»Ja, aber macht es dir was aus, meine Hand zu halten?«
Er schüttelt lächelnd den Kopf und nimmt meine Hand. Ich drücke seine fest und schließe die Augen.
An dem Morgen vor meiner Geografieprüfung, dem Morgen, an dem mein Vater starb, setzte Dad sich einfach auf meine Bettkante. Er sagte zunächst nichts und ich auch nicht. Ich war eingehüllt in eine Welt, wo alles unter einer Drei in Geografie einer nationalen Katastrophe gleichkam. So saßen wir da im Lampenschein, er auf dem Bett, ich am Schreibtisch, und er sang Amazing Grace in voller Länge, sanft und wunderschön.
Amazing Grace, how sweet the sound
That saved a wretch like me.
I once was lost, but now I’m found,
Was blind, but now I see.
’twas Grace that taught my heart to fear,
And Grace my fears relieved.
How precious did that Grace appear
The hour I first believed.
Hinterher war ich ganz ruhig. Dads Stimme erklang in meinem Kopf, als ich an jenem Tag in die Schule ging, und sie erklang in meinem Kopf, als ich im Prüfungssaal Platz nahm und die Aufgaben durchlas. Sie erklang in meinem Kopf, als ich ins Krankenhaus fuhr, und sie erklang in meinem Kopf, als ich zwei volle Monate lang nicht redete. Ich war in der
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