Liebe lieber lebenslänglich: Roman (German Edition)
der Saal verhält sich nun genauso still wie die Jury. Ich sehe Anton an und forme mit den Lippen ein Sorry. Das war’s. Ich habe es vergeigt.
»Möchtest du es noch einmal versuchen, Grace?«, fragt einer aus der Jury.
Selbst wenn ich mich noch mal traue, glaube ich nicht, dass ich es hinbekomme. Ich hatte in meinem ganzen Leben noch nie so viel Angst. Ich zittere am ganzen Körper. Ich starre zur Jury. Ich weiß nicht, was ich tun soll.
Ich schlage die Augen erneut nieder, blinzle eine Träne weg, und dann höre ich eine Stimme. Eine schwache Stimme. Die Stimme meines Vaters: »Leg ihnen einfach den Song in die Ohren, amazing Grace.«
Jemand hat mich an die Hand genommen. Ich sehe Anton an, aber er steht zu weit weg von mir. Niemand ist in meiner Nähe. Ich weiß, das ist dumm, doch ich denke, mein Vater hält meine Hand.
»Deine große Zeit ist gekommen, mein Mädchen«, flüstert er. »Sing dein Lied. Leg es ihnen in die Ohren.«
»Ja, bitte«, sage ich.
Ich sehe in die Zuschauermenge.
»Ja, bitte, wenn ich es noch mal versuchen darf.«
Das Publikum johlt, und ich lächle mit ihnen, dann stehe ich einen Moment lang da, bevor ich dem Mann am Playback zunicke. Dieses Mal setze ich im richtigen Moment ein. Ich weiß nicht, ob ich in Rom bin, im Garten meines Elternhauses, auf einem Gesangswettbewerb in Milton Keynes oder im London Palladium. Ich weiß nicht, ob ich mit Dad oder mit Anton singe. Ich weiß nur, dass ich singe. Ich, Gracie Flowers, singe gerade.
Zum Schluss, als das Publikum tobt, spüre ich, dass die Hand, an der ich mich das ganze Stück über festgeklammert habe, mich loslässt. Ich schnappe nach Luft und sehe mich um, mein Blick bleibt an Anton hängen. Jetzt nimmt er meine Hand. Ich lächle ihn an, und wir verbeugen uns zusammen.
82
Ich sitze im Backstagebereich, den Kopf an Antons Schulter gelehnt, und wir verfolgen über die Lautsprecher die Auftritte der anderen. Ich fühle mich so leicht, als könnte ich jeden Moment von meinem Stuhl emporschweben.
»Wie geht es dir?«, flüstert Anton.
»Ich fühle mich, als könnte ich Bäume ausreißen. Ich glaube, mir hat jemand was in mein Wasserglas getan.«
»Es wäre möglich, dass wir gewinnen, weißt du.«
»Oh.« An den Sieg habe ich nicht einmal gedacht. Ich hatte ganz vergessen, dass es sich um einen Wettbewerb handelt. Ich war zu sehr damit beschäftigt, darüber nachzudenken, wie absolut richtig ich mich fühle. »Das kümmert mich eigentlich nicht wirklich.«
»Das Geld könnte ganz gelegen kommen.«
»Man bekommt Geld?«
»Ja, hunderttausend. Gracie Flowers. Siehst du nie fern?«
»Ich habe mir die Show hier noch nie angeschaut.«
»Dabei ist sie wie für dich gemacht.«
»In Zukunft werde ich sie mir anschauen.«
»Außerdem erhält der Sieger einen Plattenvertrag, um ein Album aufzunehmen.«
»Ja?«
»Ja. Würde dir das gefallen?«
»Ob es mir gefallen würde, mit dir ein Album aufzunehmen?«
»Ja.«
»Ja, aber keinen seichten Pop, und ich will auch auf gar keinen Fall halb nackt für das Cover posieren müssen.«
»Nein.« Er lacht. »Ich, äh … O Gott, Grace.«
Er fischt etwas aus seiner hinteren Hosentasche.
»Was ist?«
»Ich habe hier ein paar Zeilen, die ich zu Papier gebracht habe. Lies. Ich bin ein alter Narr.«
Ich nehme den gefalteten Zettel, den er mir entgegenstreckt.
»Du bist mein alter Lieblingsnarr«, erwidere ich.
Anton sieht sichtlich unbehaglich auf seinen Schoß, während ich den Zettel auseinanderfalte.
Grace,
ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Ich will dir etwas sagen, kann es jedoch nicht persönlich tun. Ich habe es versucht, aber in deiner Gegenwart verliere ich die Fähigkeit, zusammenhängende Sätze zu formulieren. Ich könnte es dir nicht einmal in einem Song sagen.
Oh, Grace, ich bin seit dem Moment von dir geblendet, an dem du zum ersten Mal mein Lokal betreten hast. Geblendet von dieser kleinen jungen Frau mit den langen blonden Haaren, die sich eine Wohnung direkt gegenüber von meinem Pub gekauft hat. Ich schätze, was mich geblendet hat, war deine Seele. Eine freundliche Seele, eine kämpferische Seele, eine lächelnde Seele. Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll, meine Worte greifen zu kurz. Ich habe es mit den Worten von John Denver versucht, und sogar das habe ich vermasselt. Aber du findest alles, was ich dir sagen möchte, in dem Text von Annie’s Song.
Gracie, ich mag zwar im selben Alter wie George Clooney sein (tatsächlich bin ich dreizehn Monate
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