Liebe Unbekannte (German Edition)
sehen war, versetzte Gábor der Luft einen Hieb. Dann spazierten wir zu den Brüllenden und wieder zurück.
„Stellen wir uns doch wenigstens in den Gang.“
Die letzte Gruppe der Bibliotheksmitarbeiter kam gerade aus dem Gang, wo sich die Fahrstühle befanden, und trat ins Freie. Gábor kannten die meisten, weil er sich an den verschiedensten Stellen der Bibliothek herumtrieb. Einige riefen uns einen Abschiedsgruß zu und eilten zur Bushaltestelle. Zuletzt kam Tante Gizella, Arm in Arm mit Elemér, dem Leiter des Filmarchivs. Beide sahen uns mit sanftem, mütterlichem Blick an, aber ich bekam einen Kloß im Hals, als ich Elemér sah. Ich wollte ihn nicht treffen. Dabei wusste er wahrscheinlich nicht einmal, dass ich ihm aus dem Weg ging. Er ahnte es höchstens.
„Mein Junge, Sie erfrieren mir hier noch, gehen Sie zurück in den Gang.“
Die Aufzüge durften auch von den einfachen Lesern benutzt werden. Tagsüber konnte man mit ihnen in den Tabán fahren, aber um die Uhrzeit waren sie bereits außer Betrieb. Nun war der Gang nicht mehr für den allgemeinen Zutritt bestimmt, nur echte Bibliotheksleute durften sich hier aufwärmen. Gábor zählte sich noch nicht zu den echten Bibliotheksleuten. Er arbeitete erst seit drei Wochen hier. Er kam direkt aus dem Militärkrankenhaus. Man hatte ihn aus dem Wehrdienst entlassen, weil er von der Elisabethbrücke in die Donau gesprungen war. Als Beweis trug er den Krankenhausbericht bei sich. Er hatte ihn mir bereits am Nachmittag gezeigt.
„Habt ihr zufällig Schwesterchen gesehen?“, fragte Elemér.
Wir schüttelten beide den Kopf.
„War sie in der Bibliothek?“, fragte Gábor, als würde er Elemérs Schwester kennen, dabei konnte er das gar nicht.
„Nun ja, ich glaube nicht“, sagte Elemér. „Aber man weiß nie. Und du hast sie auch nicht gesehen, Schätzchen?“, wandte er sich an mich, ohne besondere Regung.
Tante Gizella bedeutete mir diskret, ich solle mich wegen Elemér nicht verrückt machen, aber auf der Hut sein. Sie mische sich nicht in meine Angelegenheiten ein, ich sei schließlich ein erwachsener Mensch, aber aufpassen solle ich trotzdem.
„Nein“, antwortete ich Elemér bestimmt und ehrlich.
Ich gab Tante Gizella mit einem ebenfalls diskreten Kopfnicken zu verstehen, dass ich wisse, was sie meine und schon aufpassen würde, aber trotzdem vielen Dank.
Ich wusste, dass Elemér etwas von mir wollte. An diesem Nachmittag hatte er mich mehrmals in Gábors Gesellschaft gesehen, und ich sah ihm an, dass er sich bereits Sorgen um mich machte. Im Moment konnte er wegen Tante Gizella und Gábor nichts anderes unternehmen, als mir verschwörerische Blicke zuzuwerfen, aber man sah ihm an, dass er etwas plante. Wahrscheinlich wusste er selbst noch nicht was.
„Du Esel, streng dich an“
, sagte eine Stimme in meinem Kopf. Sie meldete sich wegen Elemér und ich wusste, sie würde nun keine Ruhe mehr geben. Ich sollte nach Hause, dachte ich.
Wir verabschiedeten uns von ihnen und gingen auf den Gang mit den Fahrstühlen.
„Mit seiner Schwester musst du echt aufpassen“, sagte Gábor grinsend. „Sie klebt wie Fliegenpapier. Irgendwann wollte sie mal ein Krippenspiel aufführen und suchte dafür Statisten. Sie fragte alle debilen Christen der Bibliothek: ‚Willst du Weiser oder Hirte sein?‘ Sie versteckten sich schon vor ihr. Dann ging sie nach Italien. Und jetzt ist sie angeblich zurückgekommen.“
Ich nickte zerstreut, als hätte ich von alledem keine Ahnung. Auch den Ausdruck
debile Christen
überhörte ich, dabei sagte mir mein Gefühl, ich hätte das nicht unkommentiert lassen sollen. Denn an der Tatsache, dass jemand an seinem Arbeitsplatz, unter Mitwirkung seiner Kollegen ein Krippenspiel aufführen wollte, sah ich an und für sich noch nichts Schlimmes. Im Gegenteil, ich hielt es für eine sehr beachtenswerte Sache. Ja, um genau zu sein, hielt ich die Leute, die sich über so etwas lustig machten, für
Proleten
. Zum Beispiel von diesem Moment an Gábor, und das noch für eine ganze Weile. Dabei hatte ich selbst schon beobachtet, dass viele die Christen für alles Schlechte verantwortlich machten, wobei sie gar keinen Nutzen daraus zogen, nicht einmal Marxisten waren, sondern einfach nur so dachten.
„Und von diesem Ort könnte es einem übel werden“, sagte Gábor über den Gang, in dem wir standen. „Man müsste den Innenarchitekten an diese Wand ketten lassen.“
Zugegeben, der Gang war wirklich hässlich und trostlos. Ein nicht
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