Liebe Unbekannte (German Edition)
genutzter, leerer Raum, so groß wie drei Wohnungen. Neonlicht, stehende Aschenbecher, Heizungen. Der Boden aus Kunstmarmor. Ich mochte ihn dennoch, denn es gab hier eine eingebaute Vitrine, in der das gesamte Eigentum eines Urmenschen versammelt war: Faustkeile, Speerspitzen und sogar der kleine, kaputte Schädel selbst. Das war alles, was er hatte. Er konnte auf nichts anderes zählen. Ich schaffte es nie, ohne eine gewisse Rührung über diesen Gang zu gehen.
Gábor bot mir die zweite Zigarette der Marke
Grauer Bruder
an.
„Worauf in aller Welt warten wir noch?“
Er holte sein Bajonett aus der Schultertasche. Er betrachtete es genau, probierte an der Handfläche aus, ob es scharf genug war. Dann steckte er es mit einer bedrohlichen Geste weg. Er hatte sich in seinem Freund getäuscht und ließ seine Wut am Gang, an den Christen und an mir aus.
„Wohin rennst du, Schulterglatze? Wohnst du etwa bei deinen Eltern?“
Bisher hatte er so getan, als wüsste er alles über mich. Als hätte er sich über mich informiert, Nachforschungen angestellt, als sei ich ihm aus irgendeinem Grund wichtig. Darüber hatte ich mich auch nicht sonderlich gefreut, aber nun stellte sich heraus, dass er nicht einmal wusste, wo ich wohnte. Man wurde aus ihm nicht schlau. Seitdem wir uns kennengelernt hatten, hatten wir kaum fünf zusammenhängende Sätze miteinander gesprochen. Er hatte ständig zu tun, lief im Gebäude umher, verlor mich, fand mich wieder, signalisierte jedoch ständig, dass wir noch genügend Zeit haben würden, um alle Einzelheiten zu klären. Jetzt war ich ein wenig enttäuscht.
Ich wusste natürlich auch, dass wirklich legendäre Freundschaften mit wenigen, rohen Sätzen begannen, und man sich später auch ohne Worte verstand. Die rohen Sätze waren von Gábors Seite her gefallen, ich wusste nur nicht, ob er in unserer Bekanntschaft den Beginn einer Freundschaft sah, oder es sich einfach nur so ergeben hatte, dass er sich mit mir abgab. Und überhaupt: Wo waren denn die alten, legendären, großen Freundschaften!
„Hm.“
„Hab ich’s mir doch gedacht. Haben wir’s uns gedacht. Hier in der Bibliothek achten die Leute nämlich aufeinander. Jeder weiß von dir.“
Ich antwortete nicht. Mehr wollte ich nicht erfahren.
„Und die Meinungen gehen auseinander.“
Gerade darüber wollte ich nicht mehr erfahren. Er pfiff wieder eine Melodie. Zum vierten Mal innerhalb von zehn Minuten. Sobald er schwieg, pfiff er. Ich war wütend. Was ging ihn mein Leben an? Und warum fragte er, wenn er danach zu pfeifen anfing? Und warum pfiff er, wenn er etwas fragte?
„Darin sind sich allerdings alle einig, dass du eines Tages die Bibliothek anzünden wirst. Hast du eine Freundin?“
Ich schüttelte den Kopf.
„Hm, hm“, sagte er und nickte mit der Miene des Fachmanns, was etwa heißen sollte, genau das habe er erwartet, ich sei wirklich kein einfacher Fall.
„Wo wohnst du?“
Ich wollte Gábor nicht erzählen, wo ich wohnte. Überhaupt, dass ich irgendwo wohnte, weil ich befürchtete, am Ende wolle er noch mitkommen. Verrückt wie er war. Er hatte nichts zu verlieren, das hatte ich schon begriffen.
„Was ist das? Ein Verhör?“
„Du Esel, streng dich an“
, sagte die Stimme.
Gábor wollte mich nicht in die Enge treiben.
„Ist ja gut. Für mich ist es auch keine Freude, mich mit dir herumzuplagen.“
„Auf wen warten wir also noch?“, fragte ich versöhnlich. Ich dachte an die Schattenregierung.
„Wir sind neugierig“, sagte er, „wer dieses Gebäude noch verlassen wird. Denn einige sind noch drinnen.“
„Die Schattenregierung?“
„Du glaubst wohl auch daran?“, fragte er überrascht.
„Ach was“, log ich. Eigentlich glaubte ich schon daran, wollte aber nicht, dass er mich für verrückt hielt.
„Ich muss sehen, dass jemand den Personaleingang abschließt. Ich muss es einfach sehen. Vorher kann ich hier nicht weggehen.“
Dann fügte er mit kaum verhohlenem Stolz hinzu:
„Ich habe das Tourette-Syndrom. Falls du etwas damit anfangen kannst.“
„Ach, so“, sagte ich. Ich wusste nicht, was das Tourette-Syndrom war, ahnte jedoch, dass es sich dabei um etwas Besonderes handelte. Er wird sicherlich gründliche Nachforschungen betrieben haben, um eine entsprechende Krankheit für sich zu finden.
„Das ist eine Zwangsneurose“, sagte er. „Eine außerordentlich elegante Krankheit, wie mein Freund sagen würde.“
Er blickte auf die Uhr. Dann bedeutete er mir zu warten. Er rannte auf
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