Liebe und andere Parasiten
Ritchie stand auf, schob Louise von sich und trat mehrere Schritte zurück, während er das Handy hervorholte. Entsetzt blickte er auf das Display. »Anruf Ritchie«, stand dort.
Louise drehte sich zu ihm um und beobachtete ihn mit hart gewordenen Augen. Nachdem seine Hände von ihr zurückgezuckt waren, hatte er sie beinahe geschubst. Ritchie sah, dass sie nicht recht wusste, ob sie wütend werden oder so tun sollte, als würde sie wütend, weil es zum Spiel gehörte. Sie zog ihren Rock zurecht und schlug geziert die Beine übereinander, verzichtete aber darauf, ihre Bluse zuzuknöpfen und sich den BH über die Brüste zu ziehen. Mit zur Seite geneigtem Kopf beobachtete sie Ritchie skeptisch. Das Telefon klingelte immer noch. Für Ritchies Gefühl klingelte es schon seit Minuten. Er verspürte den Drang, Louise zu fragen, was er tun solle. Er verachtete sich, weil er schwach genug war, daran überhaupt zu denken. Er stand regungslos da, leckte sich die Lippen, während das Handy in seiner schwitzenden Faust vor sich hin brummte, und starrte die Frau an, die er gerade beinahe genommen hätte. Er fühlte, wie er mit jeder Sekunde Sprachlosigkeit an Ansehen verlor. Die Härte in Louise’ Augen ging in Spott über.
»Du siehst aus, als ob du mit dem Schlimmsten rechnest, Ritchie«, sagte sie. »Willst du nicht drangehen?«
»Nicht vor dir«, sagte Ritchie. Er hatte nicht barsch sein wollen, aber jetzt war es zu spät.
»Entschuldigung!«, sagte Louise und begann, sich die Bluse zuzuknöpfen. Das Telefon hörte zu klingeln auf.
»Der Zeitpunkt ist wirklich ungünstig«, sagte Ritchie, das Telefon weiter fest umklammert, während er bedauernd die Hände ausstreckte, ohne sich auf Louise zuzubewegen. »Ich muss mich darum kümmern.« Louise stand auf, und wie angeknipst führte sie allerlei ruckartige Übersprungshandlungen aus: hängte sich die Tasche über die Schulter, richtete sich die Haare, fasste sich an die Ohrringe, guckte auf ihr Telefon, biss sich auf die Lippe.
»Du bist ein viel beschäftigter Mann«, sagte sie. »Ich weiß nicht, woher du die Zeit für Nicole genommen hast, aber für mich hast du offensichtlich keine.« Ihr Mund verzog sich zu einem freudlosen Lächeln, und sie blinzelte. »Na dann, cheerio.«
»Mach’s gut«, sagte Ritchie. Er schenkte Louise das breite Stets-zu-Diensten-Grinsen, mit dem er Leute anstrahlte, die er einmal gesehen hatte und bestimmt nie wiedersehen würde, und sie ging.
Ritchie setzte sich, wählte auf Nicoles Telefon sein verloren gegangenes Handy an und schloss die Augen. Nach zweimaligem Klingeln ging jemand dran. Er hörte gespanntes Atmen.
»Hallo?«, sagte er.
»Bist du das, Daddy?«, fragte Ruby.
»Oh«, sagte Ritchie. Er machte die Augen auf. »Hallo, mein Engelchen. Ja, ich bin’s, Daddy. Dein Daddy ist dran. Wo bist du?«
»Ich bin im Bett«, sagte Ruby. »Und wo bist du?«
»In London.«
»Deine Stimme klingt so komisch.«
»Tatsächlich? Sag mal, Rubymaus, wo hast du das Telefon gefunden?«
»Im Garten.«
»Im Garten!«
»Im Gras.«
»Mmm.« Ritchie stand auf. »Was sagen denn Mummy und Dan dazu?«
»Sie wissen es nicht«, sagte Ruby. »Es ist mein Geheimnis. Ich habe es unterm Kopfkissen versteckt.«
»Was bist du doch für ein schlaues Mädchen«, sagte Ritchie. »Es ist nicht leicht, vor Mummy was zu verstecken, was?«
»Ich werde in der Pizzeria anrufen.«
»Für Pizza ist es zu spät, Schätzchen. Du musst jetzt schlafen. Wo ist Mummy?«
»Musik machen.«
»Und wo ist Milena?«
»In ihrem Zimmer.«
»Hat sie dir deine Gute-Nacht-Geschichte vorgelesen?«
»Ja.«
»Sie denkt also, du schläfst, was?«
»Ja.«
Ritchie war schon auf dem Weg zum Lift. Er fühlte sich leicht und stark und hellwach, wie vor einer schwierigen Sitzung mit Programmverantwortlichen des Senders.
»Rubyschatz«, sagte er, »das Telefon gehört Daddy. Ich habe es aus Versehen im Garten verloren.« Der Lift kam unten an. Die Tür ging auf, und er schritt auf die Haustür zu. »Hallo?«, sagte er. »Bist du noch da, Liebes?«
»Es gehört dir gar nicht!«, sagte Ruby. »Auf dem Display steht ›Nicole‹.«
Natürlich, sie haben ihr Lesen beigebracht, dachte Ritchie. Sie haben ihr die Unschuld genommen! Ihm zog sich die Kehle zusammen. Er wurde von zärtlichen Gefühlen für sein im Bett liegendes Töchterlein übermannt, wo ihre Füße gerade mal bis zur Mitte der Ponydecke reichten, ohne eine Vorstellung von den bösen Kräften der Bloßstellung, die
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