Liebe und andere Schmerzen
kann.
»Wo warst du?«
Barsch tritt Vater ihr entgegen, obwohl sie sich so bemüht hat, leise durch die Tür zu schlüpfen.
»Spazieren. Ich dachte, frische Luft tut mir vielleicht gut mit dem Magen ...«, versucht Olga den Schaden zu begrenzen. Mutter tritt hinzu, sieht ihre Tochter mit ernstem, vorwurfsvollem Blick an.
»Wir fragen uns langsam wirklich, was du da die ganze Zeit treibst, wenn du spazieren bist. Triffst du dich mit jemandem? Hinter unserem und Davids Rücken?«
Erschrocken verneint Olga, wiederholt ihre Begründung, doch damit besänftigt sie ihre Eltern nicht.
»David hat dich heute im Gottesdienst vermisst. Er hat uns nach dir gefragt, sagte, du seist ihm die ganze Woche über ausgewichen. Was soll das, Olga? Wieso lässt du ihn so hängen? Du wirst ihn vergraulen mit deiner Art!«, sagt ihre Mutter anklagend.
Olga weiß nichts zu erwidern, hilflos lässt sie die Vorwürfe ihrer Eltern über sich ergehen.
»David ist so ein netter, junger Mann, und er bemüht sich so um dich«, jammert ihre Mutter, »und du weißt das überhaupt nicht zu schätzen! Jedes andere Mädchen wäre froh, ihn als Freund zu haben!«
Olga schrumpft vor schlechtem Gewissen auf Zwergengröße. Ihre Mutter hat Recht. Ihr Vater hat Recht. Sie allein ist die Schuldige. Ihr Verhalten gegenüber David ist unfair und egoistisch. Sie lässt ihn zappeln, hat wieder seine resignierte, traurig klingende Stimme im Ohr, mit der er sich am Telefon von ihr verabschiedet hat, nachdem sie ihm zum wiederholten Mal in der vergangenen Woche abgesagt hat. Hausaufgaben. Kopfschmerzen. Ihre Oma, der sie beim Haushalt helfen sollte.
Alles fade Entschuldigungen, die sie wie ein Schutzschild vor sich hergetragen hat. Sie hebt den Blick, begegnet den enttäuschten Augen ihres Vaters, die voller stummer Vorwürfe und Fragen sind.
»Was ist los mit mir?«, fragt sie sich, »warum kann ich es ihnen nicht recht machen, warum kann ich es David nicht recht machen?«
Eine Träne rinnt ihr über die Wange. Das Glücksgefühl, das die Begegnung mit Anna ausgelöst hat, scheint auf einmal weit weg zu sein für sie, die die Tränen nun nicht mehr zurückhalten kann.
»Ach Kind, nur nicht gleich weinen! So schlimm ist es nun auch nicht, das renkt sich doch alles wieder ein«, wird die Mutter angesichts der Tränen ihrer Tochter plötzlich weich, »Nein!«, schluchzt Olga und lässt sich von ihr in den Arm nehmen. Die Anspannung, das emotionale Auf und Ab der letzten Tage und Wochen bahnt sich in Olgas Weinkrampf gewaltsam den Weg ins Freie, sie kann gar nicht mehr aufhören, sie weint und weint, und die besorgten, hilflosen Nachfragen ihrer Eltern, warum sie denn so weine, bewirken nur weitere, herzzerreißende Schluchzer. Sie kann es nicht verraten.
»Was ist denn bloß los mit dir? Seit Tagen schlechte Laune! Ich kann es echt nicht mehr sehen, Olga!« Hannah ist genervt, mit gereiztem Blick fixiert sie ihre Freundin, die mit missmutigem Blick auf einem Käsebrötchen herumkaut. Es ist große Pause und die beiden stehen in einer Ecke des Kastanienhofs.
Die ganze Woche über befindet sich Olga schon im Ausnahmezustand. Ihr Inneres ist bis zum Zerreißen gespannt - sie fühlt sich eingeklemmt zwischen widersprüchlichen Gefühlen – ihrem verzweifelten Wunsch, so zu sein wie alle anderen, so zu sein wie David es will, wie ihre Eltern es wollen, ihrem verzweifelten Wunsch, mehr als nur Freundschaft für ihn zu empfinden. Und gleichzeitig ihrem Glücksgefühl, das sie bei Anna empfindet, das sie nicht einordnen kann, das sie wiederhaben möchte, weil es so schön war, wie sonst noch nie etwas in ihrem Leben. Während des Unterrichts, während der Hausaufgaben nachmittags und abends, wenn sie im Bett liegt – beständig schwankt Olga zwischen beiden Extremen hin und her, wägt die eine Seite ab, wägt die andere Seite ab, sucht nach Erklärungen, nach Lösungen, redet sich ein, mit David könne es auch so werden wie mit Anna, verwirft diese These wieder und fragt sich, was Anna eigentlich denkt und fühlt, bekommt Schmetterlinge im Bauch, wenn sie sich überlegt, wie es wohl wäre, mit Anna...
»Nichts ...«, murmelt sie abwehrend, weicht Hannahs Blick aus. Sie hat keine Kraft für Diskussionen, für Streitereien, sie will und kann sich nicht erklären.
»Es nervt! Tierisch! Ich hab da keine Lust mehr drauf! Du kannst mit mir über alles reden, das weißt du. Aber wenn du’s nicht willst, kann ich dir auch nicht helfen. Dann lass ich dich jetzt
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