Liebe und andere Schmerzen
sind vor einer kleinen Bühne aufgestellt, die meisten gefüllt mit plappernden, lachenden, gut gelaunten Menschen.
Olga wirft einen suchenden Blick über die Menge hinweg, während sie geistesabwesend die Begrüßungen erwidert, die ihr von hier und da entgegengebracht werden, und entdeckt schnell die vertrauten Silhouetten ihrer Familie in einer der vorderen Reihen. Ein Platz ist leer.
»Kind, wo hast du gesteckt? Bist du wieder im Wald gewesen?«
Olga bejaht, ihre Mutter schüttelt besorgt den Kopf. Für ein junges Mädchen sei der Wald kein Ort, es sei zu gefährlich, man wisse nicht, wer dort alles herumstreife. Olga nickt gehorsam. Ihre Mutter verstummt, Ewald hat die Türen geschlossen und schreitet feierlich Richtung Rednerpult. Das Tuscheln und Lachen verstummt, als der Pfarrer sich hinter sein Pult stellt und den Freitagabendgottesdienst einleitet. Er predigt über die zehn Gebote, über die Notwendigkeit, die Anweisungen Gottes zu befolgen, komme was wolle.
»Nur dann werdet ihr errettet!«
Mit ineinander verkrampften Fingern denkt Olga an die Verfehlungen, die sie bereits begangen hat. Seit Wochen widersetzt sie sich dem – wenn auch nicht absolut ausgesprochenen – Verbot ihrer Mutter, im Wald alleine spazieren zu gehen. Sie ist ungehorsam. Und das schlimmste – sie begehrt, wo sie nicht begehren darf.
»Achtet die Gebote, so werdet ihr das Reich Gottes erben«, ruft Ewald der Gemeinde zu, Schweißperlen der Anstrengung auf der Stirn, und schließt die Predigt mit einem Gebet ab.
»Amen« schallt es ihm aus fünfzig eifrigen Mündern entgegen. Olgas »Amen« übertrifft an Lautstärke das ihrer Familie. Vater und Mutter werfen ihr erstaunte, anerkennende Blicke zu. Davon abgesehen sind sie damit beschäftigt, den quirligen, fünfjährigen Leo und seinen pubertierenden älteren Bruder Niko unter Kontrolle zu halten. Olga, am äußersten Rand sitzend, ist für heute dieser Aufgabe entbunden, was sie fast bereut, denn das im Zaum halten der beiden Rabauken hätte sie wenigstens ein wenig von ihren düsteren Gedanken abgelenkt.
Stattdessen hält sie nun Ausschau nach David, ihrem Sandkastenfreund David, der sie seit neuestem immer mit diesen schmachtenden, verträumten Augen ansieht und immer neue Gründe ersinnt, sich mit ihr zu treffen, sie anzurufen, ihr wie zufällig auf der Straße zu begegnen. Niko feixt deswegen ohne Unterlass, während Vater und Mutter wissende Blicke untereinander austauschen und seine Gläubigkeit, seinen Fleiß und die gepflegten Manieren ausgiebig loben, wenn die Familie abends gemeinsam am Tisch sitzt. Mittlerweile hat selbst Olga verstanden, was David von oder mit ihr möchte. Sie reckt den Hals und blickt über die Köpfe ihrer Eltern hinweg durch die Halle – da, weiter hinten auf der anderen Seite erkennt sie ihn und sieht, dass er ebenfalls nach ihr Ausschau hält.
Sie treffen sich draußen vor dem Eingang, er umarmt sie schüchtern, zartes Rot zeichnet sich auf seinen Wangen ab.
Er habe sie vermisst, sagt er, seine Augen suchen die ihren. Sie erwidert den Blick, lächelt ihn an und erklärt nun ihrerseits, dass sie ihn ebenfalls vermisst habe, was nicht ganz den Tatsachen entspricht, was aber in einer solchen Situation einfach gesagt werden muss, glaubt Olga. David, durch dieses Bekenntnis ermutigt, nimmt ihre Hand in seine und fragt sie nach ihren weiteren Plänen für den Abend und für das nun eingeläutete Wochenende, ohne den Blick von ihr zu nehmen. »Nicht viel«, gibt sie zu, und das Aufglimmen von Hoffnung, gepaart mit fast ungeduldiger Spannung, ist sofort in Davids braunen Augen zu erkennen. Er möchte sie treffen, nur sie ganz alleine, an einem ungestörten Ort. Sie fackelt nicht lange, lässt sich nur zu gerne überreden zu einem romantischen Spaziergang an der Breg, die hinter dem Gemeindehaus der Landmission plätschernd vorüberfließt, und an deren lauschigen Uferbuchten schon viele Paare ihre Zweisamkeit ausgiebig genossen haben – so geht zumindest das Gerücht. Nur David kann sie aus ihrem Gefühlschaos herausholen, nur mit ihm kann sie wieder in die richtige Bahn gelangen, sie sieht sich schon Hand in Hand, Arm in Arm mit ihm durch die Straßen von Waldstein laufen, sieht die bewundernden Augen ihrer Freundinnen auf sich ruhen, die zufriedenen, beruhigten Blicke ihrer Eltern angesichts dieses perfekten Schwiegersohnes.
Alles wird gut, wenn ich mit David zusammenkomme, sagt sie sich und nimmt sein Angebot, sie morgen Abend um 18 Uhr
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