Liebe und Gymnastik - Roman
Treppenabsatz angekommen war, konnte er nicht länger an sich halten, preschte vor und holte sie ein. Sie drehte sich um, sie standen einander im Dunkeln gegenüber: Sie eine Stufe höher als er.
«Signor Celzani?», fragte die Maestra.
Er brach in Schluchzen aus und murmelte: «Ich bin gekommen, um Ihnen Lebwohl zu sagen!»
Aber er hatte noch nicht zu Ende gesprochen, als er eine kräftige Hand im Nacken und zwei glühende Lippen auf dem Mund fühlte, und in der unbändigen Freude, die ihn erfasste, in diesem grenzenlosen dunklen Paradies brachte er, wie von einem Wirbel emporgehoben, nur einen erstickten Schrei hervor: «Oh! … Großer Gott!»
ANMERKUNGEN
NACHWORT
Was für ein Titel: Amore e ginnastica , Liebe und Gymnastik! Kecker ironisch wurde kaum je an klingende Wortpaare des Kanons großer Weltliteratur angeknüpft (Stolz und Vorurteil, Rot und Schwarz, Krieg und Frieden, Verbrechen und Strafe …) – und das von einem hierzulande fast gänzlich Unbekannten, Edmondo De Amicis (1846–1908). Die zwei Begriffe, die er hier zusammenklammert, die Liebe und die Gymnastik, liegen auf recht unterschiedlichen Ebenen der Abstraktion und der Konkretheit, der hohen und ewigen Werte und der eher banalen sportlichen Betätigung. Dennoch, einmal so verklammert, reiben sie sich aneinander und lassen die Funken sprühen: Hat denn nicht die Liebe, oder zumindest doch der Sex, durchaus etwas von Leibesübung an sich, und hat nicht auch die Leibesübung ihre erotische Seite, und sei das auch nur der Wunsch, sich anderen – und sich selbst! – attraktiv zu machen? In dem, was sich in diesem Titel reimt und sperrt, deuten sich schon mögliche Geschichten an, auf die der Leser, der das Buch in die Hand nimmt, gespannt wartet.
Dass das heute auch ein deutscher Leser sein kann, verdanken wir vor allem dem großen italienischen Erzähler Italo Calvino, der De Amicis’ Text aus dem späten 19. Jahrhundert wiederentdeckt und in einem Vorwort zur Neuausgabe von 1971 als «das wahrscheinlich schönste aller Werke Edmondo De Amicis’, sicher aber das an Humor, boshaftem Witz, Sinnlichkeit und psychologischem Scharfblick reichste» seinen Lesern begeistert empfohlen hat. Und diese Werbung ist nicht ohne Wirkung geblieben: Inzwischen sind in Italien mehr als zehn weitere Nachdrucke und Neuausgaben von Amore e ginnastica erschienen, die Verfilmung durch Luigi Filippo D’Amico, mit Senta Berger in der Rolle der Gymnastikenthusiastin, ließ auch nicht lange auf sich warten (1973), und mit einiger Verspätung kommt jetzt Liebe und Gymnastik im deutschsprachigen Raum sogar zu «Manesse-Ehren», nachdem eine erste Übersetzung 1898 wenig Resonanz gefunden hatte.
De Amicis selbst bedurfte zumindest in Italien keiner solchen Werbung durch einen prominenten Autor der Gegenwart. Der Publizist, Reiseschriftsteller und Erzähler gilt dort als einer der maßgebenden Autoren der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und als populäres Sprachrohr der nationalen Einigungsbewegung des Risorgimento; eines seiner Bücher wurde jüngst zum 150. Jubiläum des Vereinten Italien in der viel beachteten Ausstellung «L’Italia dei Libri. 1861–2011» des Staatsarchivs in Rom als eines der fünfzehn «SuperLibri» der neueren italienischen Literatur prominent herausgestellt. Das so gefeierte Werk war sein immer wieder nachgedruckter und in zahlreiche Sprachen übersetzter Schulroman Cuore. Libro per i ragazzi (1886; Herz. Ein Buch für die Knaben , 1889 u. ö.), der bald zur obligatorischen Schullektüre geworden war und es bis heute geblieben ist – trotz Umberto Ecos gewitzt ideologiekritischer Polemik gegen dessen Nationalismus, reaktionären Klassenstandpunkt und sentimentale Humorlosigkeit. Wie so oft jedoch hat sich der kritische Einspruch als kontraproduktiv erwiesen: Cuore lebt nun im Tandem mit Ecos Elogio di Franti (1963), der Lobpreisung des einzigen Lachenden in Cuore , des unangepassten und aufmüpfigen Proletarierjungen Franti, im schulischen Kanon weiter.
Wer sich mit solchen Erwartungen Liebe und Gymnastik nähert, wird gleich zu Beginn auf angenehmste Weise enttäuscht werden. Die Langerzählung – oder der Kurzroman – war zunächst 1891 in vier Fortsetzungen in der Zeitschrift Nuova Antologia erschienen, dann 1892 in Buchform in De Amicis’ Sammlung von Skizzen und Geschichten, Fra scuola e casa («Zwischen Schule und Heim»). Dieses kleine, vom Autor selbst freilich nur wenig geschätzte Meisterwerk – er habe es nur
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