Liebe und Gymnastik - Roman
vermeintlichen erotischen Rivalin.
Was dieses Haus also im Innersten zusammenhält, ist die Gymnastik, und was es durcheinanderbringt, ist die Liebe. Wie in der zeitgenössischen französischen Farce oder der opera buffa wird es zum Schauplatz, ja zur Bühne komödiantischer Irrungen und Wirrungen. In der Tat: «Das Haus war wie geschaffen für die Machenschaften und Heimlichkeiten einer Liebesleidenschaft.» Alle Räume des Hauses spielen dabei ihre besondere Rolle: die Büros und Salons, in denen selbst eine so harmlose Interaktion wie die Bezahlung des Mietzinses erotisch aufgeladen wird; Don Celzanis Schlafzimmer unmittelbar unter dem der Pedani, deren Turnübungen den Plafond zum Schwingen bringen und dem unglücklich Liebenden den Schlaf rauben; das schlecht beleuchtete Treppenhaus als Schauplatz zufälliger oder sorgfältig abgepasster Begegnungen, wie sie die Komödie liebt; ja selbst das Dachgeschoss, das dem voyeuristischen Begehren Don Celzanis intime Einblicke in Pedanis Körperkultur bietet. Und wie in so vielen Komödien beginnt alles mit einem Brief – hier dem Don Celzanis, in dem er sich sein Liebesgeständnis abringt – und endet mit einem Kuss, hier dem im dunklen Treppenhaus, dem resoluten Kuss der Pedani, mit dem sie sich schließlich Celzanis Leidenschaft ergibt bzw. ihre Herrschaft über ihn vollends besiegelt.
Nach einem gemächlichen Erzähleingang, in dem De Amicis sorgfältig die Kulissen seines kleinen Welttheaters aufbaut und seine Figuren vorstellt, nimmt die Geschichte schnell Fahrt auf, um bald in der bewährten snowballing -Struktur der Farce und im typischen Zeitrahmen der Komödie vom Spätwinter bis zum Sommer immer weitere Kreise zu ziehen und heftigere Wirkungen zu zeitigen. Wo am Anfang Don Celzani als allseits geschätzter Sekretär – als «werter Sekretär», wie ihn Ginoni, sein wohlwollender Ratgeber, mit komischer Insistenz apostrophiert – über eine geordnete und harmonische Wohngemeinschaft waltet, verliert er im Laufe seiner desparaten Werbung um die in Herzensangelegenheiten so starre Gymnastin die Sympathie eines Hausgenossen nach dem anderen, um am Ende isoliert vor dem Scherbenhaufen eines zerrütteten Hausfriedens zu stehen. Im einführenden Porträt schon wird er als Komödienfigur gezeichnet, als «eine Erscheinung wie ein Notar in der Komödie», und wie eine solche bewährt er sich durch alle Niederlagen und Enttäuschungen hindurch in seiner Qualität als komisches Stehaufmännchen, das die heikelsten Situationen mit seinem immer gleichen, den Priesterzögling verratenden «Großer Gott» quittiert – bis hin zum lustvollen «Oh! … Großer Gott!», wenn ihn ganz am Schluss Pedani mit ihrer kraftvollen Umarmung und ihrem leidenschaftlichen Kuss überwältigt. Und diese überraschende Schlusswendung zum Happy End, in der die sportlich Lieblose sich von der Liebe hinreißen lässt, entspricht in komödienhafter Spiegelung dem zentralen Umschwung seines höchsten und heroischsten Liebesopfers, der Verzweiflungstat des unsportlichen Liebenden, sich nicht mehr nur theoretisch mit der Gymnastik zu befassen, um der Geliebten zu gefallen, sondern selbst zu turnen: «Don Celzani geht in den Turnsaal!»
Der Dynamik sich weitender Kreise folgen auch die Diskurse über den Nutzen und Nachteil der Gymnastik für das Leben. Es geht nicht allein um die Gymnastik an sich, sondern um den schulischen Gymnastikunterricht, um dessen Lehrer, deren Ausbildung und die Geschichte seiner Theorie und Praxis bis zurück zum antiken Gymnasium, von dem die Gymnastik ja etymologisch ihren Namen herleitet. Es geht des Weiteren um die wissenschaftlichen Grundlagen der Gymnastik in der Anatomie, Physiologie und der medizinischen Hygiene, schließlich um den Beitrag, den sie zur nationalen Wiedergeburt, zur militärischen Ertüchtigung, zur Lösung der sozialen Frage in einer in Arm und Reich gespaltenen Klassengesellschaft und nicht zuletzt auch zur Emanzipation der Frauen zu leisten vermag. Schon zu definieren, was denn die Gymnastik eigentlich sei, erweist sich als nicht einfach: ob sie Drill oder Befreiung der Körper sei, ob sich die für Mädchen von der für Jungen zu unterscheiden habe, ob sie den weiblichen Körper härten oder anmutiger machen soll, ob sie auch Geräte wie Ringe oder Keulen einsetzen soll und wie sie sich zu anderen Körperertüchtigungen wie dem Kunst- und Geräteturnen, der Athletik und Akrobatik, dem Tanz oder dem gerade modisch gewordenen Radfahren und
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