Liebe und Gymnastik - Roman
Debatten vom Zaun brach: über eine vom gewohnten Platz gerückte Lampe, weil sie zu früh aufstand, weil sie bei Tisch auf sich warten ließ; wobei es die Zibelli nur noch mehr erboste, dass ihr diese gesunde Seele, die in einem gesunden Körper steckte, überhaupt keine Angriffsfläche für ihren Ärger bot, so rasch und warm zirkulierte in ihm das Leben, und die unablässige und fröhliche Regsamkeit schien jeden Sinn für die kleinen Misshelligkeiten des häuslichen Lebens zu ersticken. Dann kaprizierte die Zibelli sich auf jemand anderen, und solang die Illusion anhielt, kehrte sie ihr gegenüber wieder zur überschwänglichen und fürsorglichen Freundschaft der Anfangszeit zurück, half ihr beim Anziehen, amüsierte sich über ihre Unordnung, fast erfreut über die bewundernden Blicke, mit denen sie die andere bedacht sah. Als die Enttäuschungen sich aber häuften, ihretwegen, wie sie meinte, wurden die Bekundungen ihres Grolls nach und nach lauter und hielten länger an. Hatte sie nun eine dieser Phasen, begleitete sie sie nicht mehr zur Schule, zog bei den Nachbarn über sie her, machte ganze Tage lang den Mund nicht auf oder widersprach ihr heftig von früh bis spät. Aber stets ohne dass es ihr gelungen wäre, sie wütend zu machen. In den Disputen gab die Freundin ihr recht, wenn sie recht hatte, andernfalls stellte sie ruhig Überlegungen an, wobei sie stets nur den Kern der Dinge betrachtete, und wenn die Zibelli mit ihr schmollte, begnügte sie sich damit, diese hin und wieder verwundert anzusehen, wobei sie weiterhin ganz selbstverständlich ihren Beschäftigungen nachging, stets gleichbleibend in ihrer männlichen Freundschaft ohne Zärtlichkeiten und ohne Flausen, die nicht viel gab, aber auch wenig erwartete. Das letzte Mal war es wegen Maestro Fassi zum Bruch gekommen, der bei der Zibelli warme Sympathie geweckt hatte und dessen ständige Beratungen mit der Pedani über das Thema Gymnastik sie bitter kränkten. Beinah hätte sie da ihren schon oft gefassten Vorsatz, auszuziehen, wahr gemacht, hätten nicht die Macht der Gewohnheit, ein Rest an Güte und die Tatsache, dass sie keinen triftigen Grund hatte, sie davon abgehalten. Doch mehr als alles andere hatte zu ihrem Bleiben die Überzeugung beigetragen, dass der Sekretär in sie verliebt sei. Und nicht nur war sie geblieben, sondern war der Freundin gegenüber auch zur früheren Zärtlichkeit zurückgekehrt.
Aber nicht einmal das hatte die Pedani bemerkt. Sie lebte nur einem Gedanken: der Gymnastik. Nicht aus Ehrgeiz oder zum Vergnügen, sondern aus der tiefen Überzeugung heraus, dass die pädagogische Gymnastik, so gelehrt und praktiziert, wie sie und andere sie verstanden, die Erneuerung der Welt bringen werde. Prädestiniert war sie für dieses Fach durch ihren maskulinen Charakter, der jeder Weichheit und Süßlichkeit derart abhold war, dass sie in den Aufsätzen ihrer Schülerinnen unerbittlich sämtliche Kosenamen strich und nicht einmal die bei Taufnamen gebräuchlichsten, vom Heiligenkalender sanktionierten duldete. Nach dem Aufschwung, den die Gymnastik unlängst durch Minister De Sanctis 8 erfahren hatte, und infolge der nachdrücklichen Propagandatätigkeit Baumanns war ihre Gymnastikbegeisterung zu einer echten Leidenschaft geworden, was ihr in der schulischen Welt Turins eine gewisse Berühmtheit eingetragen hatte. Außer Turnen am «Liceo Monviso», wo sie auch Volksschullehrerin war, lehrte sie an der «Scuola Margherita», am «Istituto delle figlie dei militari», am «Istituto del soccorso» 9 und bei den «Töchtern der Mitglieder des Turnvereins», wobei sie dem Unterricht überall den kraftvollen Schwung ihrer eigenen Begeisterung zu verleihen wusste. Sie schien wirklich nur für diese eine Sache geboren und geschaffen. Nicht nur gelang es ihr, zu ihrem Vergnügen die schwierigsten, für Männer vorgesehenen, Übungen am Reck und am Barren auszuführen. Durch vieles Studieren war sie auch in der Theorie eine unübertreffliche Meisterin geworden, von allen Fachkundigen bewundert wegen des seltenen Abwechslungsreichtums in den Übungen, zu denen sie sich methodisch und nach eigenen Vorstellungen unzählige Variationen ausgedacht hatte, wegen der einzigartigen Prägnanz ihrer Kommandos, wodurch die Bewegungen prompt, leicht und simultan ausgeführt wurden, wegen des überaus scharfen Blicks, dem selbst in größeren Gruppen von Schülerinnen nicht die kleinste Unregelmäßigkeit in Haltung oder Bewegung entging. Damals
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