Liebe und Gymnastik - Roman
besuchte sie einen Anatomiekurs des Turnvereins; zwei Jahre zuvor hatte sie mit großem Fleiß schon einmal einen solchen besucht und viel dazu gelesen, sodass sie ihren Unterricht auf alles andere als nur oberflächliche Kenntnisse des menschlichen Organismus und der Hygiene stützen konnte. Mit einem Blick erkannte sie, ob ein Mädchen Eignung für die Gymnastik mitbrachte oder nicht, sie untersuchte die körperlichen Missbildungen, achtete auf asymmetrische Schultern, eingefallene Brustkörbe, gewölbte Unterbäuche, schiefe Knie und trachtete jeden Defekt mit einer besonderen Reihe von Übungen zu korrigieren. Dem widmete sie sich mit fürsorglichem Eifer: Sie bemühte sich, skeptische Mütter von der Wirksamkeit ihrer Methode zu überzeugen; sie führte einen unerbittlichen Krieg gegen zu enge Mieder und zu stark geschnürte Kleider; bei einigen Schülerinnen legte sie eine Tabelle über Größe und Gewicht an, um die Wirkung ihrer Behandlung zu überprüfen; auf eigene Kosten hatte sie sich einen Dynamometer 10 gekauft, um die Kraft der Mädchen zu messen; sie sparte kleine Beträge, um sich einen Apparat zur Bestimmung des Lungenvolumens zu kaufen; sie hätte sich gewünscht, dass Geräte erfunden würden, um die Schönheit der Haltung zu messen, Geschicklichkeit, Gleichgewichtssinn, alles. Außer mit ihrem Unterricht befasste sie sich auch mit speziellen technischen Problemen, sie verfolgte die Tagungen für Gymnastiklehrer in der Region und zeichnete deren Beschlüsse auf, sie las alle ausländischen Werke zum Thema, die ihr in Übersetzung in die Hände fielen, und sie versäumte keine einzige Ausgabe der zehn Gymnastikzeitschriften Italiens, deren eifrige Korrespondentin sie war. Einer ihrer Artikel über den praktischen Nutzen des Springens, voller Anmut und Kraft geschrieben, hatte die Bewunderung von Maestro Fassi geweckt und war Anlass für ihre Freundschaft geworden, die allerdings von Seiten des Lehrers nicht ganz uneigennützig war, denn obwohl voller Ideen und Wissen in seinem Fach, mangelte es ihm doch völlig an Stil, wie dem Maréchal bei Émile Augier 11 , und etwas auch an Grammatik. Die Pedani glich seine Mängel auf bewundernswerte Weise aus, wenn sie aus seinen Notizen Artikel machte, unter die dann er seinen Namen setzte. Aber die Pedani, die nicht für den Ruhm schrieb, kümmerte das nicht. Ganz auf ihren Unterricht konzentriert, eilte sie täglich kreuz und quer durch Turin, saß, wenn sie nicht unterwegs war, lesend am Schreibtisch; dachte sich, wenn sie nicht über den Büchern saß, selbstständig gymnastische Experimente aus; so übte sie unermüdlich ihr Apostolat für die physische Erneuerung der Rasse aus und bemerkte dabei weder die unzähligen Blicke, die ihren wunderschönen Körper von allen Seiten einhüllten, noch den Neid und die Eifersucht, die sie erregte. Wer sie näher kannte, hielt sie daher für ein mysteriöses Exemplar der Gattung Frau, unempfänglich für die Liebe und fast ohne Sexualtrieb, und Ingenieur Ginoni, der gern mit ihr scherzte, nannte sie «die unverwundbare Wundenschlägerin». Sie schien diese Vorstellung durch die fehlende oder doch sehr geringe Aufmerksamkeit zu rechtfertigen, die sie ihrer Kleidung widmete, außer in puncto Sauberkeit, da war sie immer tadellos. An einem Tag ging sie mit schief sitzendem Hut aus dem Haus, anderntags mit offen stehendem Mantel oder in Hausschuhen, sie machte zu große Schritte und ließ sich männliche Laute entschlüpfen, sodass die Leute sich verwundert umsahen, und sie sprach ein vierfach gerolltes «r», das knarrte wie eine Ratsche. Doch umsonst. All diese Fehler und auch das unfertige Näschen waren vergessen angesichts der kraftvollen und triumphierenden Schönheit dieses Körpers einer jugendlichen Kriegerin.
Sie und die Zibelli teilten sich eine Haushälterin und einen Raum, der beiden als Wohnzimmer diente. Auf der einen Seite des Wohnzimmers lag das Zimmer der Pedani, auf der anderen das ihrer Freundin, so verschieden voneinander wie das Wesen der beiden Personen. Das der Zibelli war ordentlich aufgeräumt und geschmückt mit Aquarellbildern, die sie in früheren Zeiten gemalt hatte, sowie mit einer Flut von Häkel- und Stickereiarbeiten, künstlichen Blumen aus Papier und Leder, Lampenschirmen, Borten und Nippsachen, ebenfalls von ihrer Hand; es gab da verschiedene kleine Stellagen hinter kleinen bestickten Vorhängen, wo neben Schulbüchern auch etliche französische Romane standen, denn je nach Laune
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