Liebe und Völkermord
und Johanna ihn begrüßte, hielt er mitten im Korridor inne, um einen Moment lang zu horchen und sich zu besinnen, was er tun solle. Ihm kamen Gedanken des Zweifels in den Sinn, ob sein Vorhaben wirklich sinnvoll sei. Johanna brachte ihm einen Becher Tee. Sie legte ihn auf den Boden des Wohnzimmers. Sie bat ihren Mann, sich für einen Moment zu beruhigen und hinzusetzen. An diesem Morgen tat er, worum sie ihn gebeten hatte.
Johanna setzte sich gegenüber von ihm hin. Sie weinte, sie trauerte um ihren Sohn. Hätte sie das nicht getan, hätten die Frauen des Dorfes über sie gelästert, sie habe ihren Sohn nicht geliebt. Also tat sie es aus Pflichtbewusstsein und nicht aus Liebe zu ihrem kleinen Jungen. Ihr Mann wusste um ihre nicht so große Liebe zu Johannes.
Murad nippte am Becher und schaute andächtig auf den Boden zwischen seiner Frau und ihm. Als Johanna mit ihrem Klagelied fertig war, schaute sie ihn an. „Was gedenkst du zu tun?“
„Hol mein Gewehr!“
Johanna erschrak. Ihre rechte Hand vor ihrem Mund zitterte. „Was hast du vor?“
„Ich habe gesagt, hol mein Gewehr, Weib!“
„ Willst du sie etwa umbringen? Das ist nicht richtig, Murad!“
„ Ich sage es nur noch ein letztes Mal!“, schrie er. Die Frau zuckte zusammen. Sie stand sofort auf und rannte aus dem Raum heraus. Sie dachte, ihr Mann würde einen der Schuldigen töten wollen. Wahrscheinlich ihren Schwager Ablahad oder Isa, Aziz' Vater. Den kleinen Aziz oder Magdalena würde er wohl nicht verletzen. Oder schlimmer noch, er würde deren Väter, Antar und Isa, zur Rechenschaft ziehen. Jene Männer hatte er schon lange Zeit auf seiner Abschussliste.
Johanna wollte ein Blutbad vermeiden. Was sollte sie aber schon gegen ihren Mann ausrichten können? Er würde sie zweifellos verprügeln, wie er es schon so oft getan hatte. Sie betrat ihr Schlafgemach und ging in die Ecke der rechten Seite des Zimmers, dort lagen Murads Gewehre, mit dem Lauf zur Decke gerichtet. Sie waren geladen, denn Murad wollte sie für den Fall aller Fälle immer griffbereit haben.
Sie nahm die beiden Waffen, eine jeweils mit einer Hand. Nein, sie wollte ihm die Waffen nicht geben.
Murad saß die ganze Zeit über auf der Matte im Wohnzimmer. Er ließ alle Ereignisse in seinem Kopf Revue passieren. Sein Sohn Johannes hatte auf den Wesir geschossen, um Isas Sohn, Matthias, zu retten. Auf Johannes' Tat reagierte der Kurde mit der Erschießung des jungen Gabriel, Isas anderem Sohn. Vielleicht war der Mord an seinem Sohn eine Racheaktion für den Mord an Gabriel? Isa hatte seinen Sohn verloren und er nun den seinen. So gesehen war es nun ein ausgeglichenes Spiel zwischen den beiden Kontrahenten. Der Unterschied war nur, Gabriel war nicht durch die Hand seines Sohnes getötet worden, im Gegenteil, sein Sohn hatte Isas Söhne vor den Moslems retten wollen, während sein Sohn durch die Hand von Isas Enkel getötet wurde. Für den Muchtar roch es nach einer Verschwörung gegen ihn, nach einem Mordkomplott. Wo blieb nur Johanna?
Plötzlich trat Murad, sein ältester Sohn in das Zimmer ein. Der Anblick seines Vaters deprimierte ihn. Mit 21 Jahren war dieser junge Mann schon ein Erwachsener. Obwohl er noch unverheiratet war, dachte er wie ein Familienvater und arbeitete daher hart als Tagelöhner. Sein Vater respektierte ihn wegen seiner Arbeitsamkeit.
Vater und Sohn sprachen kein Wort. Sie schauten nur vor sich hin auf den Boden. Dem Sohn fehlten die Worte. Was hätte er denn in solch einem Moment seinem Vater sagen können? Sollte er ihn ablenken mit irgendwelchen schönen Worten von seiner Arbeit der letzten Tage? Das hätte seinen Vater womöglich gereizt und er hätte ihn beschimpft. Hätte er ihm etwa sein Beileid aussprechen sollen? Aber dann hätte er den Zorn in seinem Vater weiter geschürt. Also sagte er lieber nichts.
Sein Erstgeborener war bereits seinen eigenen Weg gegangen. Ihn konnte er nicht mehr beeinflussen. Doch Johannes war noch sehr jung gewesen. Ihn hatte er zu seinem Erben großziehen wollen. Zu einem vortrefflichen Soldaten und einen respektierten und ehrenvollen Bürgermeister hatte er ihn machen wollen. Jener Traum, sein vorgehabtes Engagement respektive, war nun durch den Mord an Johannes durch die Hand von Aziz zerplatzt. Sein geliebter Sohn würde niemals zurückkommen. Niemals würde er ihn heranwachsen sehen. Niemals würde er seinen ausgewachsenen kräftigen Körper sehen und nie die ersten Bartstoppeln in seinem Gesicht.
Murad ballte seine
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