Liebe und Völkermord
Stütze und einen Führer.
Murad führte den Abuna zu seinem Haus. Die Frau des Abunas war Madschida, Murads Schwester. Madschida saß im Wohnzimmer auf dem kargen Boden. Sie hatte die letzte Nacht nicht geschlafen. Murad dachte, als er sie erblickte, auch sie habe womöglich den Verstand verloren, doch dem war nicht so. Er führte Arm in Arm den Abuna zu ihr hin ins Wohnzimmer. Er trug ihr auf, dort zu bleiben und auf ihren Mann aufzupassen. Madschida weinte und klagte wieder. Johannes sei ein so guter Junge gewesen, sagte sie. Murad atmete schwer. „Isa und Antar werden dafür bezahlen!“
Sie hielt schockiert inne. „Es waren Kinder, die das getan haben. Sarife ist die Schwester deiner Frau. Wir sind alle Schwestern und Brüder. Du kannst nicht deine Brüder töten, Murad! Bitte, komm zur Vernunft!“
Er kehrte ihr den Rücken zu. „Nein, töten werde ich sie nicht. Es soll kein Blut mehr vergossen werden. Sie werden aber auf eine andere Art bestraft werden!“
„ Das bringt deinen Sohn nicht wieder zurück!“
„ Willst du etwa, dass sie ungestraft davon kommen und sich denken, sie könnten so etwas wieder tun?!“
Madschida fand darauf keine schlagkräftige Antwort.
Am Abend zuvor hatte Magdalena die wildesten Beschimpfungen seitens ihrer Mutter erdulden müssen. Als Sarife in ihrer Wut nicht mehr wusste, was sie sagen sollte und sich für einen Moment von ihrer Tochter abwandte, nutzte das Mädchen die Gelegenheit, um aus dem Haus zu fliehen. Sie rannte zur Tür, riss sie auf und verschwand. Die Mutter rannte ihr hinterher, doch das Mädchen lief zu schnell und verschwand hinter der Anhöhe zur Höhle auf der Südseite des Dorfes. Sarife seufzte nur und dachte, ihre Tochter würde sich nur in der Höhle verstecken, um ihrem Wutausbruch zu entkommen. Am nächsten Morgen aber fand sie ihre Tochter nicht in der Höhle vor. Sie fragte die anderen Badeboje, ob jemand sie gesehen hätte, auch ihre Schwester, die Frau des Murad und Mutter des Opfers, doch niemand wusste, wo sie sich aufhielt. Sie war also weggerannt. Wahrscheinlich würde sie nie wieder zurückkommen, dachte die Mutter. Sie sprach mit ihrem Mann Ablahad. Ablahad eilte zu den Häusern seiner beiden Söhne und zu dritt brachen sie in Richtung Süden auf, auf die Suche nach Magdalena. Sarife hatte sie schlecht behandelt, nun bereute sie, was sie ihrer Tochter angetan hatte. Sie wollte sie nicht verlieren und betete dafür, sie möge unversehrt wieder zurück nach Hause kommen. Sie war immer noch ihre Tochter, ganz gleich, was sie getan hatte.
Zu Sarifes Verwunderung tauchte der Mörder des Johannes vor ihrer Haustür auf. Er bat um Einlass und sie gewährte ihm diesen. Der Junge bat Magdalenas Mutter um Verzeihung. Er selbst würde sich auch um ihre Tochter Sorgen machen. Sarife bat ihn, wenn er wisse, wo sich ihre Tochter aufhalte, so solle er es ihr sagen. Er jedoch bestritt, zu wissen, wohin sie gegangen sei. Sie standen einander gegenüber im Korridor genau hinter der Haustür. Aziz weinte und wischte sich mit den Händen die Tränen vom Gesicht. „Ich wollte ihn nicht töten. Er hatte sie angefasst und ihr wehgetan. Er war viel stärker als ich. Hätte ich ihn nur mit Worten ermahnt, hätte das nichts gebracht. Mir fiel keine bessere Idee ein. Dass er aber stirbt, das wollte ich nicht. Wir waren Freunde.“
Er war nicht ganz ehrlich. Diese Worte musste er vor Magdalenas Mutter sprechen, um das Mädchen und sich selbst zu schützen. Er beruhigte sich nun wieder und erinnerte sich an Magdalenas Worte in der Höhle. Sie würde ihm dankbar sein. Er verstand es als einen Schwur ihm gegenüber, ihm ewig treu zu sein. So war er sich sicher, sie würde bald zurückkommen.
Sarife merkte, Aziz liebte ihre Tochter. Sie glaubte seinen Worten. Was er für sie getan hatte, hätte er wohl nicht getan, wenn er sie nicht von ganzem Herzen geliebt hätte. Der Junge verstand nicht viel von diesen Angelegenheiten. Sie jedoch hatte schon für sich beschlossen, ihm in einigen Jahren ihre Tochter zur Frau zu geben.
Der Nachmittag ging um und Magdalena kam nicht zurück.
Pater Petrus besuchte an diesem Tag den Abuna Isa in seinem Haus. Madschida dankte dem Mönch für seinen Beistand. Petrus betete für den Abuna. Der Pfarrer saß im Wohnzimmer auf einer Matte auf dem Boden. Seine Beine hatte er zu sich angezogen. Er spreizte sie und streckte seine Hände aus. Er formte sie so, als würde er etwas fallen lassen. Petrus musste nun weinen. Die Bürde dieses
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