Liebe und Völkermord
Hände zu Fäusten. „Du musst mir helfen! Wir werden zusammen zu Isas Haus gehen!“
Der Sohn ahnte Böses, doch traute er sich nicht, sich seinem Vater zu widersetzen. In dieser Angelegenheit müsse er seinem Vater beistehen, dachte er, und dürfe nicht seinen persönlichen Interessen folgen.
„ Schau nach, wo deine Mutter so lange bleibt!“
Er nickte nur und stand sofort auf. Er hastete zuerst zur Küche, dort fand er aber nicht seine Mutter. Dann rannte er zum Schlafgemach. Er platzte herein und sah seine Mutter. Sie stand regungslos vor den Waffen. Der junge Mann blieb verwundert im Eingang stehen. „Mutter, was ist los mit dir?“
Sie drehte sich langsam zu ihm um. Tränen rannen über ihr Gesicht. Sie hielt ihre rechte Hand vor ihr Gesicht. Dann nahm sie das eine Ende ihres Schleiers von ihrer linken Schulter und bedeckte damit ihr Gesicht. Der Sohn kam ihr näher. Sie wich ihm aus und er griff zu dem ihm am nächsten, dem linken Gewehr. Er öffnete den Lauf und schaute hinein. „Es war doch geladen, oder? Wo sind die Patronen, Mutter?“
Johanna schwieg. Ihr Verhalten wirkte merkwürdig auf Murad. Dann begriff er, seine Mutter hatte die Patronen versteckt. „Mutter, wo sind die Patronen?“
„Ich weiß es nicht.“
Sie hatte die Waffen entladen und mitsamt den anderen unterhalb vom oberen Ende ihrer Matratze versteckten Reserve-Patronen aus dem Fenster des Zimmers geworfen. Nun lagen sie auf der schwarzen Erde ihres Gartens. Ein Suchender würde sie nur finden, wenn er den Boden des Gartens in vorgebeugter Haltung durchkämmen würde.
In der Zwischenzeit befanden sich Rahel und Maria mit den beiden drei armenischen Kindern in ihrem Haus. Maria erlaubte den Kindern nicht, aus dem Haus zu gehen. „Wir müssen abwarten, bis die Männer zurückkommen. Hoffentlich wird der Muchtar uns verschonen.“
„ Mutter, es war doch eigentlich die Schuld dieses Bengels gewesen, dass Gabriel erschossen wurde. Er hatte es verdient“, sagte Rahel.
Maria holte mit ihrer rechten Hand aus und ohrfeigte das Mädchen. „Sag das nicht noch einmal! Hast du mich verstanden!“
Sie beschimpfte sie und sprach auch einige üble Worte über Matthias. „Nur Matthias hat all das Übel über uns gebracht! Und sonst niemand!“
Obwohl Rahel ebenfalls ihren kleinwüchsigen Bruder nie gemocht hatte, verstand sie nun, wie blind ihre Mutter in ihrem Hass auf ihren Sohn war. Glaubte jene Frau wirklich, ihr Sohn sei ein Fluch Gottes? Oder wollte sie sich nur nicht eingestehen, sie hätte unrecht, und hatte nun in Wahrheit nur Angst vor der Rache des Murad?
Rahel hingegen hatte nie an jenen vermeintlichen auf Matthias lastenden Fluch Gottes geglaubt. Sie mochte ihn nicht, da sie ihn für einen Faulpelz hielt, und sie fühlte sich im Vergleich zu ihm ungerecht behandelt, nur da sie ein Mädchen war. Sie war erst 14 Jahre alt, begriff aber nun, sie war genauso wie Matthias ein Opfer der aramäischen Gesellschaft und des Zeitgeistes.
Die Haustür ging auf und Isa stand in der Tür. „Wo ist Aziz?“
„Ich glaube, er wollte zu Sarife und Ablahad, um sich persönlich bei ihnen zu entschuldigen. Was wollt ihr von ihm?“, antwortete Maria ihrem Mann. Isa schüttelte den Kopf. „Was macht er dort? Er muss sich beim Muchtar entschuldigen und nicht bei Ablahad!“
„ Magdalena ist verschwunden und er glaubt, sie sei verschwunden, weil sie Schuldgefühle hat.“
„ Sie wird schon zurückkommen. Wir werden Aziz zu Murad bringen.“
„ Wartet doch erst einmal ab, ob Murad zu uns kommt.“
„ Nein, wir machen den ersten Schritt! Wir müssen das tun, um Schlimmeres zu verhindern.“
Isa verschwand hastig hinter der Tür. Maria konnte ihn nicht zurückhalten. Sie wandte sich ihrer Teekanne zu. Dort in der Küche gehörte sie als Frau hin, willfährig fügte sie sich dem ihr von der Gesellschaft auferlegten Platz. Jedoch heute nicht. Heute wollte sie nicht die pflichtbewusste Ehefrau und Mutter sein. Sie ahnte böses Unheil über sich und ihre Familie kommen. Was, wenn der Muchtar ihren Mann schlagen würde? Oder sogar den kleinen Aziz?
„Bleib hier und passe auf die Kinder auf! Ich komme gleich zurück.“
„ Wohin gehst du, Mutter?“
Ohne ihrer Tochter zu antworten, verschwand Maria hinter der Tür.
Isa ging in Begleitung von Pater Petrus und Antar zu Ablahads Haus. Sarife warnte die Männer, es sei keine gute Idee zum Haus des Muchtars zu gehen. Die drei Männer waren jedoch von ihrem Vorhaben nicht mehr abzubringen.
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