Liebe
des späten 18. Jahrhunderts überhöhen die Liebe zur letzten bedeutungsstiftenden Institution. Hinter all dem steht ein großer Widerspruch: Einerseits sind die Entfaltungsmöglichkeiten des Bürgertums gegenüber dem Adel stark gestiegen. Andererseits aber bleiben die Bürger eingeschnürt durch ein starres gesellschaftlich-religiöses Korsett. Das großbürgerliche Salonleben blüht als neue Begegnungsstätte der Geschlechter. Doch die strengen Konventionen geben den Sehnsüchten fast nur in der Literatur Raum. Mit »dem Subjekt« hat das alles wenig zu tun, eher mit der fehlenden Möglichkeit, mehr zu tun, als über die Liebe nur zu reden. Doch selbst in ihren romantischsten Phantasien machten die Autoren der Romantik
ihre Sehnsuchtsfrauen nur äußerst selten zu gleichberechtigten Partnern, die ihre Erfahrungen wirklich geteilt hätten. Wahre Seelenverschmelzung, nach heutigem Ideal, war das zumeist nicht.
Dass die Zeit Ende des 18. Jahrhunderts so einen Einfluss auf unsere Vorstellung der romantischen Liebe nehmen konnte, ist übrigens nicht zuletzt der Psychoanalyse zu verdanken. Freud mochte den Gedanken der Frühromantiker, dass das Bedürfnis nach Liebe aus einer Verlusterfahrung hervorgeht. Was den Romantikern der Weltverlust, wurde Freud der Verlust der frühkindlichen Intimität. Der wahre Kern daran wurde bereits ausführlich vorgestellt. Ohne Zweifel trägt der Verlust der Mutter-Kind-Bindung (oder Eltern-Kind-Bindung) dazu bei, ein ähnliches Band zu späterer Zeit neu knüpfen zu wollen – in der geschlechtlichen Liebe. Unheilvoll dagegen war Freuds Gedanke, diese Sehnsucht zu pathologisieren. Auf diese Weise wanderte die Beschädigungsphantasie der Romantiker in die Beschädigungsphantasmen der Psychoanalyse. Und was psychisch ein ganz normaler Vorgang ist, erscheint als elementarer Dachschaden unserer Libido: Als »Narzisse« streben wir nach der Überhöhung unserer selbst. Und in der »Sublimierung« erhöhen wir – zum gleichen Zweck – den geliebten anderen.
Die psychoanalytische Fachliteratur des 20. Jahrhunderts ist voll mit Theorien, die die romantische Entfremdung von der Natur mit der Entfremdung des Kindes von der Mutter gleichsetzen. Beide Male gehe es um einen Naturverlust. Die fraglose Umgebung löst sich auf, und das »Ich« wird sich seiner Einsamkeit in der Welt bewusst. Doch davon, dass der angebliche Naturverlust der Romantiker keine allgemeine Erfahrung war, war schon die Rede. Und wer sagt eigentlich, dass der Wechsel von der kindlichen Elternbindung zur späteren geschlechtlichen Paarbindung unweigerlich ein Problem sein muss und nicht ein grundsätzlich ganz normaler Vorgang?
Die Liebesbedürftigkeit des Menschen ist keine Beschädigung.
Sie ist die normale Erwartungshaltung eines geselligen Menschenaffen, dessen Intelligenz und Sensibilität ihm die Fähigkeit verleiht, wichtige Elemente seiner frühkindlichen Bindung später in anderer Form wiederzubeleben. In ihrem Beschädigungsmodell dagegen wiederholen die Psychoanalytiker den beliebten Fehler der meisten biologischen Evolutionstheorien, die meinen: Weil etwas in der Welt ist, muss es eine Funktion haben. Psychoanalytisch gesagt heißt das: Es muss etwas kompensieren.
Ich dagegen nehme an, dass die Liebe zwischen den Geschlechtern nichts kompensiert, sondern dass sie etwas mit anderen Mitteln fortsetzt . Als Kind bringt einen der Gedanke an Weihnachten in Wallung. In der Pubertät wird aus dem Weihnachtsmann ein Klassenkamerad oder eine Kameradin. Biologisch ausgedrückt passt man sich mit der Pubertät an einen neuen Lebensraum an. Wichtige Bezugspunkte gehen verloren oder schwächen sich ab, neue Topografien kommen hinzu. Mit der veränderten Umwelt erhöht sich zugleich dasjenige, was nicht »von sich aus« festgelegt erscheint. Das Selbstverständliche nimmt ab, und das Nicht-Selbstverständliche nimmt zu. Das irritiert und erregt. Für manche Intellektuelle Ende des 18. Jahrhunderts war es Ausdruck eines Weltverlustes. Sie fühlten sich als Zeitzeugen eines gewaltigen Umbruchs und einer einschneidenden Epoche und entwarfen eine ganz persönliche pathetische Vorstellung von »romantischer Liebe«. Heute reden wir davon noch immer. Aber die meisten romantisch Liebenden unserer Zeit brauchen dafür ebenso wenig das Gefühl eines epochalen Weltverlustes wie die durchschnittlichen Liebesroman-Leserinnen im 18. und 19. Jahrhundert.
Gleiche Emotionen, andere Gedanken
Wie fällt nach alle dem die Antwort auf die
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