Liebe
etwas Besonderes fühle!« Diese Erwartung wird so natürlich nicht formuliert. Und das ist gut so, denn nicht alles in der Liebe sollte ausgesprochen werden. Der Zauber der Besonderheit verfliegt sonst allzu leicht. Nicht einmal uns selbst erzählen wir besonders gerne, dass wir geliebt werden wollen, um aufgewertet zu sein.
Das Problem der Besonderheit ist möglicherweise tatsächlich ein ziemlich modernes Problem. Je mehr wir über die Welt wissen und je mehr Vergleichsmöglichkeiten wir haben, umso schwieriger ist es mit dem Besonderen an uns. Wir sind nicht die Schlauesten, nicht die Schönsten, nicht die Allernettesten, nicht die Begabtesten, nicht die Perfektesten, nicht die Erfolgreichsten, nicht die Witzigsten und so weiter. Was immer wir uns wünschen zu sein, stets treffen wir auf andere, die »besser« sind. Zu unseren liebenswerten Besonderheiten gehören unser Musikgeschmack, unsere Moderichtung, unser Einrichtungsstil. Aber wir teilen sie mit Tausenden, wenn nicht Millionen von Menschen. Mein designtes Wohnzimmer scheint mir zu entsprechen und auch meine Lieblings-CD. Bedauerlicherweise teile ich beides mit Menschen, die mir völlig fremd sind, ja, die ich möglicherweise überhaupt nicht leiden kann.
Eine besondere Last für das Gefühl der Besonderheit ist der
Beruf. Nur sehr wenige Menschen haben besondere Berufe oder das, was wir uns darunter vorstellen. Die allermeisten Menschen haben ein Berufsleben, das es ihnen schwer macht, sich als etwas Besonderes zu fühlen. Ein Künstler mag es da leicht haben, ein Verwaltungsangestellter eher nicht. Wäre es da nicht logisch zu vermuten, dass ein Verwaltungsangestellter ein viel höheres Bedürfnis danach hat, sich außerhalb seines Berufes als besonders zu empfinden? Ist er, mit anderen Worten, liebesbedürftiger? Aber fragen wir doch einen Verwaltungsfachmann selbst dazu.
Niklas Luhmann, geboren 1927 in Lüneburg, war ein studierter Jurist und seit 1953 Angestellter an den Oberverwaltungsgerichten in Lüneburg und Hannover. Befriedigt, so scheint es, hat ihn das nicht. In seiner Freizeit liest er sich scheinbar wahllos durch alle erdenklichen Fachgebiete und macht sich Notizen für seinen Zettelkasten. Mit 33 Jahren bewirbt er sich auf ein Stipendium an die Harvard University in Boston. Als fortgeschrittener Student der Verwaltungswissenschaft setzt er sich dort in die Vorlesungen des berühmten US-amerikanischen Soziologen Talcott Parsons. Als er nach Deutschland zurückkommt, weiß er viel. Zu viel vor allem für seinen neuen Arbeitsplatz als Referent an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer. Ein glücklicher Zufall will es, dass seine kleine Gelegenheitsschrift Funktionen und Folgen formaler Organisation in die Hand Helmut Schelskys fällt, einem der einflussreichsten deutschen Soziologen. Mit Mühe lockt Schelsky den Verwaltungsmann an die Universität Münster und promoviert und habilitiert ihn in Windeseile. 1968 ist Luhmann Professor für Soziologie an der neu gegründeten Universität Bielefeld. Heute, zehn Jahre nach seinem Tod im Jahr 1998, erscheint er neben Foucault als der wohl bedeutendste Soziologe des 20. Jahrhunderts.
Die Gemeinsamkeiten und die Unterschiede zwischen Foucault und Luhmann sind bemerkenswert. Nur ein Jahr Altersunterschied trennen die Titanen der französischen und der
deutschen Soziologie. Beide verfügten sie über ein erstaunliches Selbstbewusstsein gegenüber ihren Vorgängern. Und natürlich haben sie einander weder kennenlernen wollen noch aufeinander Bezug genommen.
Wie Foucault ist auch Luhmann überaus skeptisch gegenüber den herkömmlichen Formen, in denen Geschichte und Gesellschaften beschrieben werden. Foucault stößt sich an der Vorstellung, dass die Geschichte der abendländischen Kultur eine kontinuierliche Entwicklung zum Höheren gewesen sei. Und Luhmann stört die Idee, dass es die Gesellschaft gibt und nicht stattdessen viele Teilgesellschaften. Foucaults Soziologie ist eine Soziologie der Diskontinuität. Luhmanns Soziologie ist eine Soziologie der unabhängigen gesellschaftlichen Teilsysteme. Eine absolute Wahrheit gibt es darin ebenso wenig wie eine unabhängige Moral. Wahrheit und Moral sind das, was die Verfügungsinstanzen der Macht als Wahrheit und Moral definieren, sagt Foucault. Wahrheit und Moral sind Funktionsgrößen innerhalb eines gesellschaftlichen Systems, mal wichtig und mal unwichtig, sagt Luhmann. Für die Wissenschaft zum Beispiel ist die Wahrheit wichtig;
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