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Liebe

Titel: Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Precht
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sie ihrer eigenen Gedankenwelt entgegenzusetzen.
    Tatsächlich lebten die Menschen, zum Beispiel der Antike, nicht in einer fraglos naturverbundenen Welt. Die Geschichte der Menschheit ist keine stetig aufstrebende Linie der Selbstbewusstwerdung. Die Griechen und Römer waren weit fortschrittlicher als das Mittelalter, und sie fühlten sich im Kosmos weit obdachloser als später die Christen. Ihre Götter waren nur Symbolfiguren und deren Taten mehr oder weniger glaubwürdige Kindergeschichten. Tiefe Frömmigkeit war selten, und ein fragloses Verhältnis zur Natur darf man auch nicht annehmen. Die Philosophie von Platon und Aristoteles, die Dramen von Euripides, Sophokles oder Aischylos belehren unmissverständlich darüber: kein Halt, nirgends. Zum anderen übrigens empfanden auch nur die allerwenigsten Menschen Ende des 18. Jahrhunderts solche romantischen Spannungen und Verspannungen wie Novalis, Friedrich Schlegel und Co.
    Die romantische Liebe war also weniger ein Phänomen der realen Welt als eine Phantasie in der Literatur. Als solche allerdings machte sie eine beachtliche Karriere. Der starke Gegner,
an dem sich die romantische Liebe sehr langfristig entzündete, war nicht die sinnleere Welt, sondern die strenge Klassen- und Sexualmoral des bürgerlichen Zeitalters. Der englische »Romantiker« Percy Bysshe Shelley spricht es unverblümt aus, wenn er sich im Jahr 1813 beklagt: »Nicht einmal der Verkehr der Geschlechter ist frei vom Despotismus der bestehenden Ordnung. Das Gesetz maßt sich an, selbst das unbezähmbare Schweifen der Leidenschaften zu regieren, den klarsten Schlüssen der Vernunft Fesseln anzulegen und durch den Appell an den Willen die spontanen Regungen unserer Natur zu unterjochen. Die Liebe folgt unvermeidlich auf die Wahrnehmung der Schönheit. Sie welkt dahin unter dem Zwang: die Freiheit ist ihr eigentliches Wesen... Mann und Frau sollten so lange verbunden sein, wie sie einander lieben: Jedes Gesetz, das sie auch nur für einen Augenblick zum Zusammenleben zwingt, nachdem ihre Zuneigung erloschen ist, wäre völlig unerträgliche Tyrannei und unwürdige Duldsamkeit.« 91
    Diese unerträgliche Tyrannei und unwürdige Duldsamkeit freilich ist Anfang des 19. Jahrhunderts in allen westlichen Staaten die Regel. Sie bleibt es bis weit ins 20. Jahrhundert und ist auch heute noch das Maß in vielen Gesellschaften der Gegenwart. Umso erregender war der Genuss leidenschaftlicher Liebe in Romanen. Obwohl meist Männer die Autoren waren – die Leserschaft war fast sämtlich das Geschlecht, das in den bürgerlichen Ehen des 19. Jahrhunderts nahezu immer zu kurz kam: die Frauen. Viel mehr als im Leben wurde die romantische Liebe in der Herzschmerz-Literatur erfunden, wo sie bis heute ihren festen Platz hat. Von hier aus wanderte sie in die Köpfe der Leserinnen und bestimmte ihre Vorstellungswelt so sehr, dass sie schließlich nicht mehr zu verdrängen war. Aus einer schönen Idee entstand mit der Zeit die Forderung nach einer freieren Sexual- und Ehemoral. Und aus dem drögen Pflichtfach namens »Liebe« wurden Kür und Wahl.
    Sollte dies richtig sein, so entstand die romantische Liebe nicht
vor vier Millionen Jahren in der Savanne und nicht um das Jahr 1790 in Jena. Sie entstand in den Romanen spätestens seit der englischen Aufklärungszeit und setzte ihren Siegeszug in ganz Europa fort. Romantische Liebe ist ein geträumter Ausfall gegen die Konvention. Alles andere dagegen erscheint als eine allzu romantische Geschichte über die Geburt der Romantik: Herzschmerz in der Savanne, Weltverlust in Thüringen.
    Man sollte immer vorsichtig sein mit rückwärts erzählten Geschichten und Geschichtsdeutungen, ganz gleich, wie sehr sie sich in den Köpfen festgesetzt haben. Es gehört zur Geschichtsschreibung spätestens seit dem 19. Jahrhundert dazu, frühere Kulturen immer als Vorstufen der heutigen zu sehen. Nicht selten werden historische Gesellschaften dadurch reduziert und die überzeitlichen Fragen, wie etwa jene nach der Liebe, erscheinen entstellt.
    Wenn wir das, was uns wahrscheinlich erscheint, vorsichtig zusammenfassen, so kann man vielleicht sagen: Die romantische Liebe ist eine Sehnsucht, die im 18. Jahrhundert an Kontur gewinnt. Sie richtet sich gegen die Beschränkungen eines Heiratsmarktes, der auf Gefühle keine Rücksicht nimmt. Ein anspruchsvoller Herzschmerz-Roman Die Leiden des jungen Werthers (1774) eines gewissen Herrn Goethe avancierte zum Bestseller. Und einige deutsche Denker

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