Liebe
sein soll. Elias hatte sein Werk soeben gut und glücklich fertig geschrieben, als der Zweite Weltkrieg begann und der Holocaust. Die unvorstellbaren Barbareien, die auf einer so hohen Stufe der Zivilisation möglich waren, straften die Vorstellung von einer kontinuierlichen
Höherentwicklung des Abendlandes auf drastische Weise Lügen.
Auch Elias hatte eine ziemlich pauschale Sicht des mittelalterlichen Lebens. Das Leben der Adeligen, die eine verschwindende Minderheit waren, war viel stärker vorgeschrieben als das der Bauern, von denen wir allerdings kaum Schriftzeugnisse haben. Wer von der mittelalterlichen Liebe spricht, meint, wie Elias, zumeist die höfische Kultur und damit eine elitäre Clique. Man darf auch daran zweifeln, ob der Minnesang tatsächlich eine Vorstufe der romantischen Liebe war. Denn das Ziel des Minnesangs war weder die geistige noch die körperliche Vereinigung mit der angebeteten Dame. Die Überhöhung des anderen in einem Idealbild erscheint uns heute zwar zu Recht als romantisch. Doch findet sich diese auch schon bei Sappho, Euripides und Ovid, also bei den alten Griechen und Römern. Die Überhöhung ist keine Erfindung des Mittelalters.
Nichtsdestotrotz wurde Elias’ Geschichte vom allmählichen Durchbruch der romantischen Liebe wissenschaftliches Allgemeingut. Der italienische Philosoph Umberto Galimberti von der Universität Ca’Foscari in Venedig knüpft nahtlos daran an, wenn er schreibt: »Die traditionellen Gesellschaften, die wir mithilfe der Technik hinter uns gelassen haben, ließen der Wahl des Einzelnen und seiner Suche nach der eigenen Identität wenig Raum. Abgesehen von gewissen Gruppen und kleinen Eliten, die sich den Luxus der Selbstverwirklichung leisten konnten, besiegelte die Liebe weniger die Beziehung zwischen zwei Individuen; sie diente in erster Linie der Verbindung zwischen zwei Familien oder Clans, die mit ihrer Hilfe ökonomische Sicherheit und Arbeitskraft für das Familienunternehmen hinzugewinnen, durch Nachkommen den Besitzstand sichern und, wenn es sich um privilegierte Schichten handelte, Vermögen und Ansehen vermehren konnten.« 87 Die Crux daran ist, dass auch die Demokratie in Athen und das späte Rom zu den »traditionellen Gesellschaften« gehören, wir aber gleichwohl annehmen dürfen,
dass es dort mutmaßlich mehr Liebesheiraten gab als etwa in der bürgerlichen und kleinbürgerlichen Welt des 19. Jahrhunderts. Statt mit einer aufsteigenden Linie haben wir es wohl eher mit Wellenbewegungen zu tun.
Das, was wir heute unter romantischer Liebe verstehen, wurde nicht allmählich freigesetzt. Diesen Irrtum gilt es einzuschränken. Und gerade weil es diese kontinuierliche Höherentwicklung nicht gab, haben wir allen Anlass, uns heute zu fragen, was die romantische Liebe denn überhaupt sein soll. Wie viel von dem, was die Menschen früherer Zeiten unter »Liebe« verstanden haben, ist mit unseren Liebesvorstellungen identisch? Wie groß ist der Beitrag der überzeitlichen Gefühle? Und wie viel ist historisch und kulturell verschieden?
Beschädigte »Subjekte«
Um diese Fragen zu beantworten, müssen wir uns darüber klar werden, was die romantische Liebe in der Tradition des Abendlandes eigentlich sein soll. Denn wie die evolutionären Psychologen ihre Schöpfungsgeschichte der romantischen Liebe in der afrikanischen Savanne finden, so haben auch die Geisteswissenschaftler und Philosophen einen romantischen Schöpfungsmythos.
Diese Geschichte, erzählt zum Beispiel von dem Freiburger Soziologen Günter Dux, geht in etwa so: Es gab einmal eine Zeit, da lebte das Subjekt mit der Natur im Einklang. Diese Zeit hat keine genaue Altersangabe, aber es war irgendwann vor dem Beginn des bürgerlichen Zeitalters. Das Subjekt lebte von seiner Hände Arbeit und stellte sich keine schwierigen Fragen. Über seinen Platz in der Welt dachte es nicht viel nach; er war ihm selbstverständlich. Dann aber begann die bürgerliche Zeit mit ihrer Industrie und ihrer modernen Arbeitswelt. Das
Leben wurde komplizierter. Und alles war mit einem Mal weniger selbstverständlich: das Verhältnis zur Natur, das Verhältnis zum anderen Geschlecht und nicht zuletzt das Verhältnis zu sich selbst. Mit Dux gesagt: »Dem Subjekt geht die Welt verloren.« 88
Wo früher alles natürlich miteinander verbunden war, herrschten jetzt Unsicherheit und Chaos. »Das Subjekt gerät durch den Weltverlust in eine Sinnkrise. Sie besteht darin, dass es für die Sinnbestimmung seiner
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