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Liebe

Titel: Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Precht
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Doch je höher die Erwartungen und Erwartungserwartungen werden, umso weniger sind sie noch zu erfüllen. Das Risiko liegt dann darin, dass uns kein Liebespartner mehr wirklich genügt und vollends befriedigt. Aus dieser Kluft zwischen lieben wollen und nicht mehr langfristig glücklich lieben können erwächst eines der zentralen Themen der heutigen Zeit. Mehr als den anderen, so scheint es, lieben wir die Liebe...

Liebe heute

11. KAPITEL
    Verliebt in die Liebe?
    Warum wir immer mehr Liebe suchen und immer weniger finden
     
     
     
    Die Kunst, verheiratet zu leben, definiert eine Beziehung, die dual in ihrer Form, universal in ihrem Wert und spezifisch in ihrer Intensität und in ihrer Kraft ist.
    Michel Foucault
     
Ehen werden im Himmel gestiftet und auf Autositzen geschieden.
    Niklas Luhmann

Liebe als Selbstverwirklichung
    Als meine Großeltern heirateten, hatten sie keine Wahl. Ihre Väter arbeiteten bei der Bahn. Sie verabredeten sich. Mariechen und Willi, fünf Jahre Altersunterschied, das passte. Es hielt zusammen, mehr als 50 Jahre; gepasst hatte es nie. Meine Großeltern hatten es sich nicht ausgesucht. Sie suchten sich ja ohnehin nichts selbst aus: ihre Liebe, ihren Beruf, ihren Wohnort, ihren Arzt, ihren Glauben, ihren Lifestyle, ihren Telefonanbieter, ihre Community, ihre Peer Group nicht und auch keinen Therapeuten. Die Kirche blieb im Dorf, die Ansprüche waren gering. Meine Großeltern machten alle vier Jahre ein Kreuz auf dem Wahlzettel mit einer Pause zwischen 1933 und 1949. Sie kannten
Deutschland und Österreich, und die einzige große Reise meines Opas war der Krieg. Ob er nach Polen wollte, wurde er nie gefragt.
    Als meine Eltern heirateten, durften sie wählen. Sie kannten das Leben, aber nur ein bisschen. Sie heirateten früh, meine Mutter war 22. Das war Ende der 1950er Jahre. Mein Vater brauchte nicht zum Militär, weil es ausnahmsweise keines gab. Dafür konnte er studieren und wurde Designer, was in Deutschland sehr neu war. Das Land wurde reicher und reicher. Die 60er Jahre kamen und Oswald Kolle klärte die Republik auf. Aus dem Pflichtfach Sex wurden Kür und Wahl. Meine Eltern reisten durch Westeuropa bis nach Marokko, flogen nach Südkorea und Vietnam. Sie versuchten ein alternatives Leben und trennten sich von den Werten ihrer Eltern. Sie traten aus der Kirche aus, kauften ein Eigenheim am Stadtrand, kamen in die Midlife-Crisis, erhielten eine Satellitenantenne für ein zusätzliches drittes Fernsehprogramm und eine Fernbedienung.
    Als ich Abitur machte, gab es in Deutschland die ersten Videorekorder. Das war 1984. Telefone hatten noch eine Schnur und gehörten der Post. Das Land wurde immer noch reicher. Aber es gab eine Lehrlingsschwemme und schlechte Berufsaussichten auch für Studierte. Ich konnte meinen Studienort frei wählen und bald auch zwischen zehn Fernsehprogrammen. Ich konnte reisen, wohin ich wollte, nach 1990 sogar in den Osten. Ich musste lernen, einen Computer zu bedienen. Ich konnte mir meine Liebe aussuchen, meinen Beruf, meinen Arzt, meinen Glauben, meinen Lifestyle, meinen Telefonanbieter, meine Community, meine Peer Group und, wenn ich gewollt hätte, meinen Therapeuten. Ich war frei und bekam meine ersten grauen Haare. Der Schutzfaktor der Sonnenmilch hat sich verzehnfacht, die Klimakatastrophe ist Gewissheit geworden. In Zeitungen und Büchern kann man lesen, dass der Öko-Crash nicht mehr aufzuhalten ist. Im Fernsehen werden uns Überbevölkerung, Migration und die Kriege um die natürlichen Ressourcen vor Augen geführt. In
unserer realen Lebenswelt aber merkt man nichts davon. Die Menschen sehnen sich noch immer nach mehr: nach einem Maximum an Liebe und Sex, an Glück, an Gesundheit. Sie wollen prominent sein, schlank und niemals alt.
    Wir leben keine Normalbiografien mehr wie unsere Großeltern, wir haben Wahlbiografien, oder genauer »Bastelbiografien«. Wir wählen aus einem immer größeren Sortiment an Lebensmöglichkeiten, und wir müssen wählen. Wir sind gezwungen, uns selbst zu verwirklichen, weil wir ohne diese »Selbstverwirklichung« augenscheinlich gar nichts sind. Und uns verwirklichen heißt nichts anderes als auswählen aus Möglichkeiten. Wer keine Wahl hat, kann sich gar nicht selbst verwirklichen. Wer sich dagegen verwirklichen muss, kann auf die Wahl nicht verzichten. Und die wundervolle Chance »Sei du selbst!« ist zugleich eine finstere Drohung. Was ist, wenn mir das nicht gelingt?
    Auch in der Liebe erwarten wir heute so viel

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