Liebe
wie möglich – wir sind es uns wert. In unseren Beziehungen suchen wir vielleicht noch immer einen sozialen Halt. Mehr noch aber suchen wir eine Idealmöglichkeit zur Selbstverwirklichung – in der romantischen Liebe.
Romantik ist die Idee, das flüchtige Gespenst der Verliebtheit in den Rahmen der Liebe zu stecken und ihm in einem selbst gemalten Porträt ein ewiges Antlitz zu geben. Diese Vorstellung ist nicht neu. Vermutlich gab es sie in ähnlicher Form bei den alten Griechen sowie in der Renaissance und – zumindest als Idee – auch in der höfischen Kultur des Mittelalters. Diese Idee wurde, wie gesagt, nicht kontinuierlich freigesetzt, und selbst unsere Großeltern wussten nur selten davon. Kein Zweifel aber besteht daran, dass sie heute eine weit verbreitete Vorstellung in den Wohlstandsstaaten zumindest der westlichen Welt ist und dass sie auch in vielen anderen Ländern vorkommt. Das Einzigartige dabei ist ihr Massencharakter. Was auch immer Romantik in der Vorstellungswelt früherer Zeiten gewesen sein mag, unter
keinen Umständen war sie etwas, was fürs Volk gedacht war. Romantik war keine realistische Erwartung von Normalsterblichen. Sie war die künstlerische Phantasie einer Oberschicht, eine Passion von Privilegierten.
Heute dagegen ist Romantik ein allgegenwärtiger Anspruch. Wer von geschlechtlicher Liebe redet, der redet in allen Bevölkerungsschichten von Leidenschaft und Verständnis, Aufregung und Geborgenheit. Und sei es auch nur, dass er das Fehlen des einen oder des anderen bei seinem Liebespartner seufzend bemängelt. Unsere Gesellschaft verfügt nicht nur über einen historisch beispiellosen Wohlstand und ein ebenso einzigartiges Bildungsniveau. Sie setzt auch einen beispiellosen Anspruch auf Glück und Wahl ins Recht. Und sie überbrückt dabei Räume und Zeit durch Autos, Züge, Flugzeuge, Internet und Mobiltelefon.
Selbst wenn der Wohlstand nicht gleichmäßig verteilt ist und die Kluft zwischen Arm und Reich größer wird, und selbst wenn im Hinblick auf unsere Unterschicht von einer »Bildungskatastrophe« die Rede ist, so ist zumindest der Anspruch auf Glück, auch in der Liebe, fast überall vorhanden. Dieser Anspruch mag sich auch heute noch unterscheiden. In den Glitzermetropolen der Sex and the City -Kultur ist er vermutlich ein anderer als in den ländlichen Regionen Frieslands und der Oberpfalz mit ihren Bauer sucht Frau -Problemen . Aber die Allgegenwärtigkeit des Glücksanspruchs in der Liebe steht damit nicht in Frage.
Verloren gegangen in diesem Massenanspruch ist die Rebellion. Romantische Liebe ist heute nicht mehr subversiv und kein Ausfall gegen die Konvention. Im Gegenteil ist sie deren Bestätigung. Im 18. und 19. Jahrhundert war die romantische Liebe oft revolutionär, indem sie die Leidenschaft über die Klassenfrage stellte. Nicht die Ordnung der Gesellschaft, sondern die Aufwallung der Gefühle sollte über die Liebe entscheiden. Anders in der Neoromantik der 1968er-Bewegung. Hier war es nicht der Klassengegensatz als vielmehr die kleinbürgerliche Sexualkonvention,
die revolutionär in Frage gestellt wurde. Dass solche Provokationen heute nicht mehr möglich sind, weil sie nicht mehr als subversiv erlebt werden, ist ein gutes Zeichen. Der Anspruch auf seelische und körperliche Selbstbestimmung in der Liebe ist heute weitgehend akzeptiert. Was die Romantiker noch in der Literatur, die Neoromantiker in Happenings zum Ausdruck brachten, hat heute einen festen Sitz im Leben.
Wir wollen unsere Liebe leben. Und dieses Ausleben unserer Liebe ist weitgehend ein Selbstzweck. Moderne Beziehungen sind viel mehr um der Liebe willen existent, als das in vorangegangenen Generationen der Fall war – ein »universelles Experiment« im Sinne des Frühromantikers Friedrich Schlegel und sehr viel radikaler, als dieser sich das je hätte ausmalen können.
Ist Selbstverwirklichung schlecht?
Die Beurteilungen dieser neuen Form von Liebesbeziehung gehen stark auseinander. Was den einen der Triumph der Freiheit ist, die höchste Stufe einer positiven »Individualisierung«, ist anderen ein Gräuel. Der konservative italienische Philosoph Umberto Galimberti zum Beispiel ist not amused. Er sieht im Anspruch der Selbstverwirklichung durch die Liebe Selbstmitleid und Missbrauch: »Der Raum, in dem das Ich sich ohne jegliche Einschränkungen ausleben kann, ist zum Schauplatz eines radikalen Individualismus geworden, auf dem Männer wie Frauen im anderen ihr eigenes Ich suchen.
Weitere Kostenlose Bücher