Liebe
In der Beziehung geht es ihnen weniger um die Herstellung einer Verbindung mit dem anderen als vielmehr darum, ihr Selbst zu entfalten und zu entwickeln. Eine Art Selbstmitleid, das in einer Gesellschaft keinen Ausdruck mehr finden kann, in der die Identität eines jeden nach seiner Eignung und Funktionalität im System festgelegt wird. Aufgrund dieses merkwürdigen Zusammenspiels wird die Liebe
in unserer Zeit für die eigene Selbstverwirklichung unverzichtbar, aber auch unmöglich wie nie zuvor: Was in der Liebesbeziehung gesucht wird, ist nicht der andere, sondern die Selbstverwirklichung durch den anderen.... Das Du wird zum Mittel für das Ich .« 98 Die Kur, die Galimberti gegen diesen Selbstkult vorschlägt, ist eine religiöse Selbstreinigung. Mit Lauster’scher Selbstsicherheit legt er fest: »Begehren ist Transzendenz«. 99
Doch nicht nur konservative und religiöse Menschen stoßen sich an der neuen Liebe der Individuen mit ihrer Suche nach maximaler Selbstverwirklichung. Der US-amerikanische Philosoph Harry Frankfurt von der Princeton University zum Beispiel verspürt ein ähnliches Unbehagen wie Galimberti. Auch Frankfurt wünscht sich eine Liebe ohne Egoismus, Selbstbezüglichkeit und Eigennutz-Gedanken. Seine Definition »der Liebe« ist exklusiv: »Die Liebe ist vor allem interessefreie Sorge um die Existenz dessen, was geliebt wird, um das, was gut für sie ist. Der Liebende wünscht, dass das geliebte Wesen aufblüht und ohne Schaden bleibt, und zwar nicht, um damit einen anderen Zweck zu unterstützen.... Für den Liebenden sind die Umstände, unter denen sich das geliebte Wesen befindet, allein an sich selbst wichtig, unabhängig davon, wie sie mit anderen Dingen zusammenhängen.« 100
Eine solche Liebe, wie Frankfurt sie als »die Liebe« definiert, gibt es möglicherweise zwischen Eltern und Kindern. Aber auch den Princeton-Professor selbst beschleichen Zweifel, dass dieser Prototyp der Liebe für die geschlechtliche Liebe taugt. Artistisch schlägt er deshalb eine Kapriole. Wenn seine Definition der Liebe für Mann und Frau nicht gilt – dann ist das, was sich in den Beziehungen zwischen Mann und Frau an Romantischem abspielt, eben keine Liebe: »Vor allem Beziehungen, die im Wesentlichen romantisch oder sexuell sind, bieten meiner Verwendung nach keine sehr authentischen oder erhellenden Paradigmen der Liebe. Beziehungen dieser Art sind in der Regel mit einer Reihe extrem irritierender Elemente verbunden, die nicht
zur wesentlichen Natur der Liebe als einem Modus interessefreier Sorge gehören; sie sind vielmehr so verwirrend, dass es nahezu unmöglich ist, sich darüber klar zu werden, was genau hier passiert.« 101
So wird man das Problem natürlich auch los! Wenn einen das, was zwischen Frau und Mann passiert, »irritiert«, dann erklärt man es schlichtweg nicht als zugehörig zur »wesentlichen Natur der Liebe«. Doch diese »wesentliche Natur« ist in Wahrheit nur eine persönliche Festlegung von Mr. Frankfurt. Dass die Liebe tatsächlich in der »Identität von Hingabe und Eigeninteresse« liegen soll, ist eine hübsche Idee, dem Ideal der Frühromantik nahe verwandt. Aber im wirklichen Leben gibt es ungezählte Fälle brennender Leidenschaft, die diese Identität nicht kennen. Es ist eben nicht so, dass der »Schein des Konfliktes zwischen dem Verfolgen eigener Interessen und der selbstlosen Hingabe an die Interessen anderer sich verzieht, sobald wir einsehen, dass das, was den Interessen des Liebenden dient, nichts anderes als seine Selbstlosigkeit ist«. 102
Man braucht kein Anhänger der fürchterlichen Eigennutz-Theorie von Michael Ghiselin zu sein (»Kratz einen Altruisten, und du siehst einen Heuchler bluten«), um zu dem Schluss zu kommen, dass Frankfurts Identität von Hingabe und Eigeninteresse weder ein Normalfall noch ein Dauerzustand in Liebesbeziehungen sein kann. In glücklichen Momenten mag dies zutreffen – Tag für Tag und Situation für Situation allerdings nicht. Das tatsächliche Problem einer geschlechtlichen Liebesbeziehung liegt im Gegenteil darin, dass die Spannung zwischen Eigeninteresse und Selbstlosigkeit gerade nicht aufgehoben, sondern ausgehalten werden muss. Und wahrscheinlich ist es gerade dies, was der Liebe ihre Spannung gibt.
Die Vielzahl der Entscheidungen in modernen Liebesbeziehungen trennt immer wieder das Eigeninteresse von der Selbstlosigkeit. Ein ewiges Hin und Her statt einer konstanten Verschmelzung. Moderne Romantik ist nicht mehr
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