Liebe
versteht, durchschaut, worum es in einer Liebesbeziehung geht: um die Stabilisierung eines Inneren, das es ohne die Liebe so nicht gäbe. Doch Luhmanns Theorie hat gleichwohl einige Schwächen. Sie betreffen das, was in der Systemtheorie stillschweigend durch die Maschen fällt. Den Satz »Liebe ist kein Gefühl« kann man nur schreiben, wenn man sich für die psychische Qualität der Gefühlsdimension von Anfang an nicht interessiert. Für einen Soziologen ist diese etwas arg beschränkte Sicht legitim. Dem Phänomen der Liebe aber wird man auf diese Weise nicht ganz gerecht. Interessanterweise nämlich gibt es bei Luhmann überhaupt keine einseitigen Liebesverhältnisse, kein unglückliches Verliebtsein, keine unerfüllte Sehnsucht. Liebesbeziehungen bei Luhmann sind immer wechselseitig abgestimmte Erwartungen. Kurz gesagt: Für den Soziologen gibt es nur feste Liebesbeziehungen, Ehen und Partnerschaften. Denn nur sie bilden ein soziologisch interessantes »System« namens »Intimität«.
Doch natürlich ist Liebe auch ein Gefühl. Sie ist wie gezeigt keine Emotion im Sinne einer völlig eindeutigen physiologischen Erregung. Aber sie ist die vorstellungsreiche Interpretation eines Erregungszustands. Von dieser Interpretation zur Erwartung an einen anderen ist es noch ein großer Schritt. Der Bauer, der im Mittelalter beim Anblick eines Burgfräuleins erregt wurde, hatte vermutlich nicht die Absicht, in seiner Liebe zu ihr »Sinn« zu finden. Auch Luhmann erklärt, dass es sich hierbei um eine moderne Erwartung handelt. Doch selbst in der Moderne ist diese Erwartung keineswegs selbstverständlich. Der vermutlich weit größere Teil aller Liebesempfindungen findet heute kein gleichfühlendes
Gegenüber. Folglich bilden diese Empfindungen auch kein wechselseitig stabilisiertes System der Intimität. Sind sie deswegen nicht vorhanden? Und sind sie ohne jegliche soziologische Bedeutung? Zum Beispiel, wenn man feststellen könnte, ob die Zahl der einseitigen Liebesgefühle in einer Gesellschaft fällt oder steigt?
Der Satz »Ich liebe dich!« ist weit mehr als eine Gefühlsäußerung. In diesem Punkt hat Luhmann ohne Zweifel recht. Aber Liebe ist gleichwohl ein Gefühl. Und Luhmanns Liebesbegriff vermengt ohne Skrupel eine ganze Reihe unterschiedlicher Bewusstseinszustände. Verliebtheit und Liebe werden nicht unterschieden, obwohl dieser Unterschied nicht nur biologisch, sondern auch soziologisch relevant ist. Für jemanden zu schwärmen zum Beispiel heißt nicht notwendig, sich im Blick des anderen bestätigen zu wollen. Ansonsten wäre die Liebe eines Teenies zu einem Pop-Idol unsinnig und nicht vielmehr eine Trockenübung für spätere Liebe. Und auch das an die Verliebtheit häufig gekoppelte Bedürfnis nach Sex ist nicht notwendig ein Bedürfnis nach Ganzheitserfahrung. Was für den einen oder die eine die Pointe am Sex ist, gilt es für manchen anderen gerade zu vermeiden. Statt Identität bestätigt zu finden, ist es oft im Gegenteil die Lust an einer Rolle, mithin also eine Charade, die den sexuellen Reiz ausmachen kann.
Schlussfolgerungen
Was also haben wir aus diesem Kapitel an Einsicht gewonnen? Unsere Liebesvorstellungen sind keine biochemische Angelegenheit, sondern eine gesellschaftliche. Gleiche Erregungen führen in unterschiedlichen Gesellschaften zu verschiedenen Interpretationen dessen, was mit einem selbst los ist. Die »romantische Liebe«, die unser heutiges Liebesbild in Bezug auf die Geschlechter
beherrscht, ist ein Liebesmodell unter anderen. Sein wichtigstes Kennzeichen ist die Idee der Verschmelzung von Sex und Liebe, die so allerdings kaum gelebt werden konnte. Diese Idee hat Vorläufer in unterschiedlichen Zeiten und Kulturen. Vermutlich aber gab es in der Geschichte nichts völlig Identisches zu unserem heutigen romantischen Liebesbild in der reichen westlichen Welt. Die Folge ist ein recht neues »Selbstkonzept« des Liebenden, begleitet von ebenso neuen »Selbsttechniken«. Oder anders ausgedrückt: Wir interpretieren unsere Erregungen nicht nur anders, wir verhalten uns auch anders. Und zwar sowohl uns selbst gegenüber wie auch im Umgang mit dem geliebten Menschen. Die wichtigste Veränderung dürfte unsere Erwartungshaltung sein. Wir wollen nicht nur Sex und Liebe vereinen, wir wollen noch viel mehr: Intensität und Dauer. Unsere Erwartungen sind immens gestiegen. Und weil wir wissen, dass auch die Erwartungen der anderen gestiegen sind, erhöhen wir die Erwartungen an uns selbst.
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