Liebe
die bedingungslose
und dauerhafte Verschmelzung von Eigen- und Fremdinteresse, sondern sie ist das nie abreißende Abenteuer der (Neu-) Verständigung.
Sich damit abzufinden erscheint nicht leicht. Und vielleicht ist dies der Grund, warum die Kritiker der Idee von der eigennützigen Selbstverwirklichung in der Liebe so gerne übertreiben. Sie bauen einen Papiertiger auf, wenn sie meinen, der moderne Mensch suche allen Sinn in der Liebe. Galimberti beispielsweise schreibt: »Als Gegengewicht zu einer gesellschaftlichen Wirklichkeit, wo niemandem erlaubt ist, er selbst zu sein, weil jeder so sein muss, wie der Apparat ihn will, und das Leben als entfremdet empfunden wird, muss die Liebe zum einzigen Zufluchtsort des Sinns werden.« 103
An diesem Befund, dass wir allen Sinn in unserer Liebe suchen, stimmt nichts. Wieso ist es heute »niemandem erlaubt, er selbst zu sein«? Ist das wirklich so? War es früher etwa besser? Durfte mein Großvater im Kaiserreich, in der Weimarer Republik oder im Dritten Reich mehr er selbst sein als ich heute? Das klingt ebenso schief wie die Vorstellung der Frühromantiker (und der frühromantischen Soziologen heute), in den traditionellen Gesellschaften sei das Leben noch in Ordnung gewesen. Wer ist übrigens »der Apparat«, der den Menschen ihr Leben vorschreibt? Mit solchen Worten charakterisiert man vielleicht den Stalinismus, nicht aber unser Leben in der westlichen Welt im Jahr 2009. Und zu guter Letzt: Wer von uns heute empfindet sein Leben »als entfremdet«? Solch eine Idee vertritt allenfalls ein sehr konservativer Ideologiekritiker in der Tradition von Erich Fromm und Theodor W. Adorno. Es gehört schon zu den hartnäckigsten Gerüchten der Soziologie, dass sich die Menschen heute als entfremdet empfinden, weil sie es der linken Theorie der modernen Arbeitswelt nach sind. Doch wer soll unter einem Verlust leiden, der schon Jahrzehnte vor seiner Geburt stattfand, wenn nicht sogar Jahrhunderte? Der Bezugspunkt eines Menschen für das, was er als verloren oder zugewonnen erlebt, ist stets die eigene
Biografie und nicht die Vorvergangenheit. Gewiss leiden die Menschen darunter, wenn Werte, die ihnen in der Kindheit Halt gaben, heute verloren oder dahingestellt sind. »Entfremdung« allerdings müsste noch ganz anders wirken. Wir müssten darunter leiden, dass wir der Natur entronnen sind, statt uns über die Zentralheizung zu freuen. Wir müssten die Technik scheuen und uns wünschen, wieder als arme Bauern leben zu dürfen. So viel Naturromantik uns mitunter auch überkommen mag – in der Regel reicht uns die Restnatur des Stadtwaldes; wirklich zurück in die Zeit vor die »Entfremdung« will fast keiner.
Was Galimberti auf seine etwas unbeholfene Art und Weise möglicherweise sagen will, ist, dass der Prozess der »Individualisierung« dem Menschen nicht nur Gutes beschert hat. Individualisierung ist eine feine Sache, insofern wir heute eine schier beispiellose Freiheit genießen. Keine Generation zuvor hatte so viel Zeit, sich um ihre eigene Befindlichkeit zu kümmern. Aber natürlich enthält die gleiche Individualisierung auch die Gefahren der Selbstsucht, der Vereinsamung und des Asozialen. Kein Wunder, dass viele Soziologen in der Individualisierung der heutigen Wohlstandsmenschen nicht nur eine Chance, sondern auch ein Risiko für unsere Liebesbeziehungen sehen. Ehen, so heißt es, werden zum Zweck der Selbstverwirklichung geschlossen und zum Zweck der Selbstverwirklichung wieder geschieden. Die Individualisierung ist ihr wichtigstes Motiv und ihre größte Klippe. Man sucht den anderen, um man selbst zu sein, und man trennt sich wieder, um man selbst zu bleiben. Diese verbreitete Diagnose ist nicht ganz falsch. Aber sie ist auch nicht ganz richtig. Denn das Spiel der Erwartungen und Erwartungserwartungen in heutigen Beziehungen ist ungleich komplizierter. Verständlicher wird es erst, wenn wir den Begriff der Individualisierung mit einem anderen Begriff kombinieren: mit der »Rückbindung«.
Rückbindung
Die soziologische These von der geradezu bedingungslosen Individualisierung sieht unser Leben durch zwei Faktoren bestimmt: einen Zugewinn an Freiheit und einen Verlust an Orientierung. Die Werte, in die wir oder unsere Eltern noch hineingeboren wurden, sind fragwürdig geworden. Der religiöse Glaube verliert an Bedeutung, die politische Weltanschauung ebenso. Als Europa- oder gar Weltbürger fühlt man sich überall ein wenig zuhause, aber nirgendwo mehr ganz. Wir
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