Liebe
gar progressiver: Ganz im Gegenteil erklärte er den Menschen seinem »Wesen« nach als gierig, geil, machtbesessen, brutal, egoistisch und triebgesteuert.
Mit seiner Ansicht, dass alles wesentliche Verhalten des Menschen erstens angeboren und zweitens ein Relikt aus der Steinzeit sei, wurde Morris zum genialen Sprachrohr einer fundamental biologischen Weltauffassung. 1973 kehrt er an die Universität Oxford zurück, um über die angeborenen Grundlagen des Verhaltens der Menschen zu forschen. Sein Mentor, der Niederländer Nikolaas Tinbergen, ist einer der seinerzeit bedeutendsten Verhaltensforscher. Und die »Ethologie« erlebt zu dieser Zeit einen beispiellosen Boom. Tinbergen erhält im gleichen Jahr den Nobelpreis, gemeinsam übrigens mit Konrad Lorenz, der soeben seine philosophische Bilanz veröffentlicht hat. Wie Morris’ Bücher, so ist auch Die Rückseite des Spiegels ein ehrgeiziger Versuch, die menschliche Kultur biologisch auszudeuten und zu erklären. Hat Lorenz recht, so gelten für die Kultur die gleichen Gesetze wie für die Biologie, und alles menschliche Verhalten ließe sich durch Instinkte und biologisches Lernverhalten erklären. Dass Lorenz es am Ende sogar wagt, die weitere kulturelle Evolution – und zwar zutiefst pessimistisch – vorherzusagen, erhöht
freilich nicht unbedingt das Zutrauen des Lesers zu den vielen kühnen und unerschrockenen Thesen. Denn wo Morris letztlich vor Vertrauen in das Schicksal seines nackten Affen strotzt, sieht Lorenz den Untergang der Zivilisation heraufdämmern, nicht zuletzt durch die Schamlosigkeit des Minirocks.
Vermeintlich überzeitliche und nüchterne Analysen der menschlichen Natur haben oft nur eine erstaunlich kurze Halbwertszeit. Der Grund dafür ist leicht benannt. Um bestimmen zu können, wie der Mensch »von Natur« aus ist, muss man seine Natur sehr gut kennen. Und diese Kenntnis wird dadurch stark erschwert, dass sowohl Lorenz wie Morris die Ausbildung der menschlichen Natur nicht in der Gegenwart, sondern allein in der Vergangenheit ansiedeln. Der Mensch soll sein, was er in der Steinzeit war, und zwar im Sexuellen wie im Sozialen, in unseren Aggressionen und Neigungen, in unserer schöpferischen Neugier, in den Gewohnheiten des Essens und der Körperpflege, ja selbst in unseren Glaubensvorstellungen. Da uns die Steinzeit aber nicht gerade bestens bekannt ist, sind künstlerischen Phantasien und wilden Improvisationen keine Grenzen gesetzt. Und hier zeigt sich Desmond Morris geradezu als ein Meister des paläolithischen Surrealismus.
Ein großes Rätsel in der Evolutionsbiologie des Menschen ist die weibliche Brust. Im Vergleich mit anderen Säugetieren und auch mit Menschenaffen sind die Brüste vieler Menschenfrauen auffallend groß. Für die Milchproduktion, das wusste auch Morris, ist diese Größe weder notwendig, noch steht sie zu ihr überhaupt in einem Verhältnis. Mit kühnem Pinselstrich entwirft Morris dazu folgende Vision: Busen und Lippen der Frau sind auf die Vorderseite der Frau projizierte Sexualsignale! Als Affe im Urwald reagierte der frühe Mensch vor allem auf Sexualsignale von hinten. »Fleischig halbkugelige Hinterbacken und ein Paar hochroter Schamlippen« beim Weibchen verführten das Männchen zum Aufsitzen. Mit dem aufrechten Gang in der Steppe aber kam es – nach Morris – zur frontalen Begattung,
und die auslösenden Reize wanderten von hinten nach vorne. Deshalb stünde es »so fest wie der Busen«, dass Frauen »Duplikate von Hinterbacken und Schamlippen in Form von Brüsten und Mund« haben. Die frontale Begattung als Folge verführerischer Irreführungssignale, so Morris weiter, brachte Mann und Frau nun auch seelisch näher. Man schaute sich in die Augen, intensivierte die »Paarbildung« und entschied sich für die Monogamie. 5
Diese amüsante Geschichte aus der Steinzeit ist natürlich blanker Unsinn. Man muss nicht erst fragen, warum auch Männer mitunter volle Lippen haben, um stärkste Zweifel an Morris’ unumstößlicher Zoologie zu haben. Man kann damit anfangen, dass der einzige monogame Menschenaffe, der Gibbon mit seinen fünfzehn Arten, ausgesprochen zierliche Brüste hat. Bonobos dagegen, die sich in allen erdenklichen Stellungen, darunter auch gerne in der »Missionarsstellung«, vergnügen, sind ausgesprochen polygam und gehen keinerlei ernsthafte Paarbindung ein. Und auch Bonobo-Weibchen haben keine großen Brüste.
Morris’ Theorie des Busens ist also kaum mehr als eine lustige Fußnote
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