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Lieben: Roman (German Edition)

Lieben: Roman (German Edition)

Titel: Lieben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
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einer Kaskade aus Gliedern und Augen, Blättern und Nägeln, Haaren und Schwänzen, Haut und Pelz und Rinde und Eingeweiden neues Leben aus und verschluckt es wieder. Und was wir niemals wirklich verstehen werden oder nicht verstehen wollen, ist die Tatsache, dass dies außerhalb von uns geschieht und wir selbst keinen Anteil daran haben, dass wir nur das sind, was wächst und stirbt, so blind wie die Wellen im Meer.
    Im Tal hinter mir näherten sich vier Autos. Es waren die Gäste meiner Mutter, also ihre Schwestern, deren Männer und Kinder sowie Ingrid und Vidar. Ich ging zum Haus hinauf, sah, wie aufgekratzt und fröhlich sie aus den Wagen stiegen, der Gletscher war bestimmt ein fantastischer Anblick gewesen. In der nächsten Stunde würden sie sich auf ihren Zimmern frisch machen, dann wollten wir uns treffen und Hirschbraten essen und Rotwein trinken, Reden lauschen, Kaffee und Cognac trinken. Wir würden uns in kleinen Gruppen sammeln und unterhalten und amüsieren, während der Abend in eine helle Nacht mündete.
    Yngve erhob sich als Erster. Er überreichte unser Geschenk, eine Spiegelreflexkamera, und hielt eine Rede. Ich war so nervös, dass ich nur Bruchteile von ihr mitbekam. Abschließend meinte er, sie habe immer fest an ihre Fähigkeiten als Fotografin geglaubt, doch sei dieser Glaube stets unbegründet gewesen, da sie nie eine eigene Kamera besessen habe. Daher das Geschenk.
    Dann war ich an der Reihe. Ich war unfähig gewesen, etwas zu essen. Und das, obwohl ich praktisch alle Leute, die mich nun anstarrten, mein Leben lang gekannt hatte, und ihre Blicke ausnahmslos freundlich waren. Aber die Rede musste gehalten werden. Ich hatte meiner Mutter nie gesagt, dass sie mir etwas bedeutete. Ich hatte ihr nie gesagt, dass ich sie liebte oder gern hatte. Schon der Gedanke, etwas in der Art von
mir zu geben, konnte mich veranlassen, mich aus Widerwille und Abscheu abzuwenden. Natürlich würde ich das auch jetzt nicht sagen. Aber nun war sie sechzig geworden, und ich, ihr Sohn, musste sie mit ein paar Worten ehren.
    Ich stand auf. Alle sahen mich an, die meisten lächelnd. Ich musste meine ganze Konzentration aufbieten, damit meine Hände, mit denen ich die Blätter hielt, nicht zitterten.
    »Liebe Mutter«, sagte ich und wandte mich ihr zu. Sie lächelte aufmunternd. »Ich möchte damit beginnen, dir zu danken«, fuhr ich fort. »Ich möchte dir dafür danken, dass du eine so unglaublich gute Mutter gewesen bist. Dass du eine unglaublich gute Mutter gewesen bist, gehört zu den Dingen, die ich einfach weiß. Aber bei Dingen, die man einfach weiß, fällt es einem nicht immer leicht, sie in Worte zu fassen, und in diesem Fall ist es besonders schwierig, weil deine Eigenschaften nicht auf Anhieb zu sehen sind.«
    Ich schluckte, starrte auf das Wasserglas hinunter, beschloss, nicht danach zu greifen, hob den Kopf und sah in die Augen, die mich anstarrten.
    »Es gibt einen Film von Frank Capra, in dem es genau darum geht. It’s a Wonderful Life von 1946. Es geht darin um einen guten Menschen in einer amerikanischen Kleinstadt, der am Anfang des Films in einer tiefen Krise ist und alles aufgeben will, was er hat. Dann greift ein Engel ein und zeigt ihm, wie die Welt ohne ihn gewesen wäre. Da erst ist er im Stande zu erkennen, welche Bedeutung er für andere Menschen hat. Ich glaube nicht, dass du den Beistand eines Engels benötigst, um zu verstehen, wie wichtig du für uns bist, aber manchmal könnten wir ihn vielleicht gebrauchen. Du lässt allen um dich herum genügend Platz, um sie selbst zu sein. Das mag banal klingen, aber das ist es nicht, im Gegenteil, es ist eine sehr seltene Eigenschaft, die manchmal schwer zu erkennen ist. Menschen zu sehen, die sich in den Mittelpunkt stellen, ist leicht.
Die zu sehen, die Grenzen setzen, ist leicht. Du stellst dich dagegen nie in den Mittelpunkt und setzt anderen keine Grenzen: Du akzeptierst, dass sie sind, wie sie sind, und stellst dich darauf ein. Ich denke, das haben alle hier im Raum erfahren.«
    An der Tafel ertönte zustimmendes Raunen.
    »Im Alter von sechzehn, siebzehn war das von unschätzbarem Wert für mich. Wir wohnten alleine in Tveit, und ich glaube, ich machte eine ziemlich schwierige Phase durch, fühlte aber die ganze Zeit, dass du Zutrauen zu mir hattest, mir vertrautest und, nicht zuletzt, dass du an mich glaubtest. Du hast mich meine eigenen Erfahrungen machen lassen. Als es geschah, begriff ich natürlich nicht, dass du genau dies getan

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