Lieben: Roman (German Edition)
hast, ich glaube, ich sah weder dich noch mich. Aber das tue ich heute. Und dafür möchte ich dir danken.«
Als ich das gesagt hatte, begegnete ich Mutters Blick, und meine Stimme brach. Ich griff nach dem Glas, trank einen Schluck Wasser, versuchte zu lächeln, was mir allerdings nicht leichtfiel, da ich spürte, dass eine Art Mitleid in der Stimmung am Tisch lag, und es fiel mir schwer, damit umzugehen. Ich wollte doch nur eine Rede halten, mich nicht dem Abgrund meiner Sentimentalität nähern.
»Ja«, sagte ich, »jetzt sitzt du hier und bist sechzig geworden. Dass du nicht gleichzeitig dein Rentnerdasein planst, sondern ganz im Gegenteil gerade ein Studium abgeschlossen hast, sagt auch einiges darüber aus, wer du bist: erstens bist du lebendig und vital und voller intellektueller Neugier – zweitens gibst du niemals auf. Das gilt für dich, für dein Leben, hängt aber auch damit zusammen, wie du zu anderen bist: Dinge dürfen Zeit brauchen. Dinge dürfen so viel Zeit brauchen wie erforderlich. Als ich sieben war und in die Schule kommen sollte, wusste ich das nicht unbedingt zu schätzen. Du fuhrst mich zu meinem ersten Schultag, ich erinnere mich noch gut, und kanntest den Weg zur Schule nicht genau,
glaubtest aber, dass du ihn bestimmt finden würdest. Wir landeten in einer Einfamilienhaussiedlung. Dann in einem anderen Wohngebiet. Da saß ich nun in meinem hellblauen Anzug mit dem Ranzen auf dem Rücken und frisch gekämmten Haaren und fuhr auf Tromøya herum, während meine zukünftigen Schulkameraden auf dem Schulhof standen und Reden lauschten. Als wir endlich in der Schule ankamen, war schon alles vorbei. Ich könnte hier eine Vielzahl ähnlicher Anekdoten erzählen, so hast du beispielsweise nicht wenige Kilometer buchstäblich auf Irrwegen verbracht, bist Kilometer um Kilometer durch fremde Landschaften gefahren und entdecktest erst, dass es doch nicht die Straße nach Oslo war, als du im Dunkeln am Ende eines fernen Tals auf einem Feldweg gelandet warst. Es gibt so viele Anekdoten dieser Art, dass ich mich mit der letzten in einer langen Reihe begnügen werde, als du an deinem eigentlichen Geburtstag vor einer Woche Kollegen zum Kaffee eingeladen hattest. Sie kamen, aber du hattest vergessen, Kaffee zu kaufen, so dass ihr Tee trinken musstet. Manchmal denke ich, dass deine unglaubliche Zerstreutheit die eigentliche Bedingung dafür ist, dass du in unseren Gesprächen und in deinen Gesprächen mit anderen so präsent sein kannst.«
Erneut war ich so dumm, ihrem Blick zu begegnen. Sie lächelte mich an, meine Augen wurden feucht, und dann, oh nein, stand sie auf und wollte mich umarmen.
Die anderen Gäste klatschten, und ich setzte mich voller Verachtung für mich selbst, denn obwohl es letztlich einen guten Eindruck machte, dass ich die Kontrolle über meine Gefühle verlor, obwohl dies meinen Worten zusätzlich Nachdruck verlieh, schämte ich mich trotzdem, ihnen eine solche Schwäche gezeigt zu haben.
Einige Plätze weiter erhob sich Mutters älteste Schwester Kjellaug, sprach vom Herbst des Lebens und erntete ein paar
gut gelaunte buhende Zwischenrufe, aber ihre Rede war schön und voller Wärme, und sechzig war nun einmal nicht vierzig.
Während der Rede kam Linda herein, setzte sich neben mich und legte die Hand auf meinen Arm. Hat alles geklappt?, flüsterte sie. Ich nickte. Schläft sie?, flüsterte ich, und Linda nickte und lächelte. Kjellaug setzte sich, und der nächste Redner stand auf, und so ging es weiter, bis alle Gäste am Tisch geredet hatten. Die Ausnahme bildeten natürlich Vidar und Ingrid, da sie meine Mutter überhaupt nicht kannten. Aber sie fühlten sich trotzdem wohl, zumindest Vidar. Verschwunden war der etwas starre, altherrenhaft beschränkte Zug, der sich bei ihm daheim manchmal zeigte, hier trat er souverän auf, fröhlich und lächelnd, mit leuchtenden Wangen und Augen, jeden ansprechend, ehrlich interessiert an den Dingen, die sie erzählten, und mit einem Füllhorn von kleinen Anekdoten, Geschichten und Gedankengängen auf sie eingehend. Wie es Ingrid ging, war schwieriger zu sagen. Sie wirkte aufgekratzt, lachte laut und warf mit Superlativen um sich, alles war über die Maßen schön und fantastisch, weiter gelangte sie allerdings nicht, sie schien dort stehenzubleiben, kam nicht wirklich hinein oder hinunter in das, worum es an diesem Abend ging, ob es nun daran lag, dass es ihr nicht gelang, sich anzupassen, weil ihr die Menschen fremd waren, oder daran,
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