Lieben: Roman (German Edition)
ich. »Mir wird ganz flau, wenn du das sagst. Die restliche Zeit ist es, als würde ich nicht verstehen, dass ein ganz bestimmter Mensch in deinem Bauch liegt.«
»Aber so ist es«, meinte Linda. »Ich habe das Gefühl, es schon zu kennen. Erinnerst du dich, wie wütend es geworden ist, als ich diesen Diabetes-Test gemacht habe?«
Ich nickte. Da ihr Vater an Diabetes litt, bestand auch bei Linda die Gefahr einer Erkrankung, so dass sie eine Art Zuckermischung essen musste, ihren Worten zufolge das Ekelerregendste und Widerlichste, was sie jemals zu sich genommen hatte, woraufhin das Kind in ihrem Bauch über eine Stunde lang getreten hatte wie verrückt.
»Sie oder er hat da eine ganz schöne Überraschung erlebt«, sagte ich und grinste, während ich zum Humlegården hinübersah, der auf der anderen Straßenseite begann. Mit Kuppeln aus Licht, an manchen Stellen die Bäume beleuchtend, die mit ihren schweren Stämmen und sich spreizenden Ästen im Park standen, und an anderen Stellen das feuchte, gelblich verfärbte Gras, während dazwischen völlige Dunkelheit herrschte, hatte die Atmosphäre nachts etwas Verzaubertes, allerdings nicht verzaubert wie im Wald, sondern verzaubert
wie in einem Theater. Wir folgten einem der Fußwege. An manchen Stellen lagen noch kleine Blätterhaufen, ansonsten waren die Rasenflächen und Wege zwischen ihnen nackt und ähnelten dem Fußboden in einem Zimmer. Ein Jogger lief langsam und schlurfend um die Statue von Linné herum, ein zweiter kam den sanften Anstieg herabgerannt. Ich wusste, dass unter uns die riesigen Magazine der Königlichen Bibliothek lagerten, die hell erleuchtet vor uns brütete. Einen Häuserblock unterhalb von ihr lag der Stureplan, wo sich die exklusivsten Nachtclubs befanden. Wir wohnten einen Katzensprung oberhalb des Platzes, aber es hätte ebenso gut in einem anderen Erdteil sein können. Dort unten wurden Menschen auf offener Straße erschossen, aber wir erfuhren davon erst am nächsten Tag aus der Zeitung, Weltstars schauten vorbei, wenn sie in der Stadt waren, die gesamte Promiszene und Wirtschaftselite Schwedens zeigte sich dort, worüber das ganze Land dann in den Boulevardblättern las. Um hineinzukommen, stellte man sich nicht in eine Warteschlange, sondern stand in einer Reihe, woraufhin Türsteher die Runde machten und auf alle zeigten, die eintreten durften. Das Harte und Kalte, das dieser Stadt zu eigen war, hatte ich früher nicht wahrgenommen, und den kulturellen Abstand hatte ich nie zuvor so deutlich erlebt. In Norwegen sind fast alle Abstände geographisch, und weil dort so wenig Menschen leben, ist der Weg an die Spitze oder ins Zentrum überall kurz. In einer Schulklasse oder zumindest einer Schule gibt es immer jemanden, der es auf irgendeinem Gebiet bis ganz nach oben schafft. Jeder kennt jemanden, der jemanden kennt. In Schweden ist der soziale Abstand bedeutend größer, und da die ländlichen Regionen entvölkert sind und fast alle in den Städten leben, und jeder, der etwas erreichen will, nach Stockholm geht, wo alles von Bedeutung geschieht, wird er extrem sichtbar: so nah, gleichwohl so fern.
»Denkst du ab und zu daran, wo ich herkomme?«, sagte ich und sah sie an.
Sie schüttelte den Kopf.
»Nein, eigentlich nicht. Du bist Karl Ove. Mein schöner Mann. Das bist du für mich.«
»Eine Siedlung auf der Insel Tromøya, weißt du, es gibt nichts, was weniger mit deiner Welt zu tun haben könnte als das. Ich weiß wirklich nicht das Geringste über das Leben hier. Alles hier ist mir zutiefst fremd. Weißt du noch, was Mutter sagte, als sie zum ersten Mal in unsere Wohnung kam? Nein? ›Das hätte Großvater sehen sollen, Karl Ove‹, sagte sie.«
»Das ist doch schön«, sagte Linda.
»Aber verstehst du nicht? Für dich ist diese Wohnung nichts Besonderes. Für Mutter war sie wie eine Art kleiner Ballsaal.«
»Und für dich?«
»Ja, für mich auch. Aber das meine ich gar nicht. Ob es schön ist oder nicht. Sondern die Tatsache, dass ich von etwas vollkommen anderem herkomme. Von etwas unglaublich Unkultiviertem. Es ist mir scheißegal, und das hier auch, der Punkt ist, dass es nicht meins ist und niemals meins werden kann, egal, wie lange ich hier wohnen werde.«
Wir wechselten die Straßenseite und bogen in die schmale Straße in dem Viertel, in dem Linda aufgewachsen war, am Saturnus vorbei und die Birger Jarlsgatan hinunter, an der das Zita lag. Mein Gesicht war vor Kälte ganz steif. Die Oberschenkel eiskalt.
»Wenn
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