Lieben: Roman (German Edition)
stellte sie noch zwei Mal die Musik in voller Lautstärke an. Beim letzten Mal traute sie sich eine halbe Stunde, bevor sie ausschaltete. Es war lächerlich, aber unangenehm. Sie war verrückt und hatte uns zu ihren Hassobjekten erkoren. Wir hatten das Gefühl, dass alles Mögliche passieren konnte, aber bis zur nächsten Episode verging mehr als eine Woche. Wir stellten vor unserer Wohnungstür ein paar Topfpflanzen in das Fenster im Treppenhaus, das allen gemeinsam war und uns streng genommen natürlich nichts anging, aber in der Etage über uns hatten sie das Gleiche getan, und kein Mensch konnte ja wohl etwas dagegen haben, dass der kalte Flur ein wenig freundlicher gestaltet wurde? Zwei Tage später waren die Pflanzen verschwunden, was nicht weiter schlimm war, aber die Blumentöpfe hatte ich von meiner Urgroßmutter geerbt, und sie gehörten zu den wenigen Dingen, die ich aus dem Haus in Kristiansand mitgenommen hatte, als Großmutter starb, sie waren von der Jahrhundertwende, weshalb wir es ein wenig ärgerlich fanden, dass ausgerechnet sie verschwanden. Entweder hatte sie jemand gestohlen – aber wer stiehlt schon Blumentöpfe? –, oder jemand hatte sie entfernt, weil er oder sie unsere Initiative missbilligte. Wir beschlossen, am Schwarzen Brett im Flur einen Zettel aufzuhängen und zu fragen, ob jemand sie gesehen hatte. Noch am selben Abend war der Zettel voller Schimpfworte und Anschuldigungen, die mit blauer Tinte und in schlechtem Schwedisch
verfasst waren. Bezichtigten wir die Hausbewohner etwa des Diebstahls? Wenn es so war, konnten wir sofort ausziehen. Was glaubten wir eigentlich, wer wir waren? Ein paar Tage später wollte ich einen Wickeltisch zusammenbauen, den wir bei IKEA gekauft hatten, was nicht ohne ein paar Hammerschläge vonstatten ging, aber da es erst halb sieben war, sah ich darin kein Problem. Aber das war es; unmittelbar nach den ersten Schlägen setzte unter uns ein wüstes Hämmern gegen die Rohre ein, es war unsere russische Nachbarin, die so gegen das protestieren wollte, was sie als Übergriff empfand. Aber deshalb konnte ich ja schlecht aufhören, den Tisch zusammenzubauen, also machte ich weiter. Eine Minute später knallte die Tür in der unteren Etage, dann stand sie vor unserer Tür. Ich öffnete. Wie konnten wir uns nur über sie beschweren und dann selber einen solchen Lärm machen? Ich versuchte, ihr zu erklären, dass ein Unterschied dazwischen bestand, mitten in der Nacht laute Musik laufen zu lassen oder um sieben Uhr abends einen Wickeltisch zusammenzubauen, predigte jedoch tauben Ohren. Mit wildem Blick und aufgebrachten Gesten blieb sie bei ihrer Anklage. Sie hatte geschlafen, wir hatten sie geweckt. Wir dachten, wir wären besser als sie, aber das waren wir nicht… Von dem Tag an hatte sie ihre Methode gefunden. Wenn ein Laut von uns zu ihr hinunterdrang, und sei es auch nur, dass wir mit schweren Schritten durchs Zimmer gingen, begann sie, gegen die Heizungsrohre zu hämmern. Es war ein durchdringendes Geräusch, und da sein Verursacher unsichtbar blieb, stand es wie eine Art schlechtes Gewissen im Raum. Ich hasste das, hatte das Gefühl, nirgends meine Ruhe zu haben, nicht einmal in meinen eigenen vier Wänden.
Dann, in den Tagen vor Weihnachten, wurde es still unter uns. An einem Stand am oberen Ende des Humlegården kauften
wir einen Weihnachtsbaum; es war dunkel gewesen, die Luft voller Schnee, und auf den Straßen herrschte das übliche vorweihnachtliche Chaos, in dem die Menschen blind füreinander und für die Welt einfach vorbeihuschten. Wir suchten uns einen aus, über den der Verkäufer im Overall einen Netzschlauch zog, damit man ihn leichter transportieren konnte, ich bezahlte und legte ihn mir auf die Schulter. Erst in dem Moment kam mir der Gedanke, dass er eventuell ein bisschen zu groß sein könnte. Eine halbe Stunde später, nach unzähligen Pausen unterwegs, zerrte ich ihn in die Wohnung. Als wir ihn im Wohnzimmer stehen sahen, mussten wir lachen. Er war riesig. Wir hatten uns einen gigantischen Weihnachtsbaum angeschafft. Aber vielleicht war das ja auch gar nicht so verkehrt, denn es würde das erste und letzte Weihnachtsfest sein, das wir nur zu zweit feiern würden. Heiligabend aßen wir die traditionellen schwedischen Weihnachtsgerichte, mit denen Lindas Mutter zu uns gekommen war, packten Geschenke aus und sahen anschließend Chaplins Der Zirkus , denn uns selbst hatten wir eine DVD-Box mit all seinen Filmen geschenkt, die wir uns
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