Lieben: Roman (German Edition)
du es so empfindest, hast du wirklich Glück«, sagte sie. »Weißt du eigentlich, wie gut das für dich gewesen ist? Dass du einen Ort hast, zu dem du willst? Dass es ein Außerhalb gab, aus dem du gekommen bist, und ein Innerhalb, zu dem du wolltest?«
»Ich verstehe, worauf du hinauswillst«, sagte ich.
»Für mich war doch schon alles da. Ich bin darin aufgewachsen.
Und ich kann es kaum von mir selber trennen. Und dann sind da auch noch die Erwartungen. Von dir hat doch keiner etwas erwartet, oder? Ja, schon klar, aber ich meine, darüber hinaus, dass du studieren und einen Job bekommen solltest?«
Ich zuckte mit den Schultern.
»So habe ich das noch nie gesehen.«
»Nein«, sagte sie.
Es entstand eine Pause.
»Ich habe immer mittendrin gewohnt. Mutter hat sich vielleicht nur das eine für mich gewünscht, dass es mir gut geht …«
Sie sah mich an. »Deshalb hat sie dich so gern.«
»Hat sie?«
»Hast du das nicht gemerkt? Das musst du doch gemerkt haben!«
»Doch, schon.«
Ich erinnerte mich an meine erste Begegnung mit ihrer Mutter. Ein kleines Haus auf einem alten Gehöft im Wald. Herbst. Als wir ankamen, setzten wir uns sofort an den gedeckten Tisch. Heiße Rindfleischsuppe, frisch gebackenes Brot, Kerzen auf dem Tisch. Ab und zu spürte ich ihren Blick. Er war neugierig und warmherzig.
»Aber wo ich aufgewachsen bin, gab es außer Mutter auch noch andere«, fuhr Linda fort. »Johan Nordenfalk der zwölfte, meinst du etwa, der ist Gesamtschullehrer geworden? So viel Geld und Kultur. Da muss man doch Erfolg haben. Drei meiner Freunde haben sich umgebracht. Wie viele anorektisch sind oder gewesen sind, wage ich mir gar nicht erst auszumalen.«
»Ja, es ist wirklich bescheuert«, sagte ich, »dass die Leute es nicht einfach entspannt angehen lassen können.«
»Ich will nicht, dass unsere Kinder hier aufwachsen«, sagte Linda.
»Sprechen wir jetzt schon von ›Kindern‹?«
Sie lächelte.
»Ja?«
»Dann wohnen wir eben auf Tromøya«, sagte ich. »Da kenne ich nur einen, der sich umgebracht hat.«
»Darüber macht man keine Witze.«
»Nein, schon gut.«
Eine Frau mit hohen Absätzen in einem langen roten Kleid klapperte vorbei. Sie hielt eine schwarze Tasche in der einen Hand, presste mit der anderen einen schwarzen Netzschal an die Brust. Direkt hinter ihr gingen zwei bärtige junge Männer in Parkas und Boots wie für eine Gebirgswanderung, der eine von ihnen hielt eine Zigarette in der Hand. Dahinter drei Freundinnen, auch sie festlich gekleidet, mit kleinen, zierlichen Täschchen in den Händen, aber wenigstens mit Windjacken über den Kleidern. Verglichen mit den Straßen im Stadtteil Östermalm war das hier der reinste Zirkus. Auf beiden Straßenseiten lagen hell erleuchtete Restaurants, die ausnahmslos voller Menschen waren. Vor dem Zita, einem von zwei Programmkinos in dieser Gegend, stand schlotternd eine kleine Menschentraube.
»Aber jetzt mal im Ernst«, sagte Linda. »Vielleicht nicht unbedingt nach Tromøya. Aber auf jeden Fall nach Norwegen. Da ist es netter.«
»Das ist es.«
Ich zog die schwere Tür auf und ließ ihr den Vortritt. Zog Handschuhe und Mütze aus, knöpfte den Mantel auf, lockerte den Schal.
»Aber ich will nicht nach Norwegen«, sagte ich. »Das ist der springende Punkt.«
Sie sagte nichts, ging zu dem Schaukasten mit den Filmplakaten, drehte sich zu mir um.
»Sie zeigen Modern Times !«, sagte sie.
»Wollen wir reingehen?«
»Ja, lass uns das tun! Aber vorher muss ich noch etwas essen. Wie viel Uhr ist es?«
Ich schaute mich nach einer Uhr um, entdeckte eine kleine dicke an der Wand hinter der Kasse.
»Zwanzig vor neun.«
»Er läuft um neun. Das schaffen wir. Kauf du die Karten, dann gehe ich schon mal gucken, ob ich in der Bar eine Kleinigkeit bekommen kann.«
»Okay«, sagte ich, fischte einen zerknüllten Hunderter aus der Tasche und ging damit zur Kasse.
»Gibt es noch Karten für Modern Times ?«, sagte ich.
Eine Frau, kaum älter als zwanzig, mit Zöpfchen und Brille, sah mich hochnäsig an.
»Wie bitte?«, sagte sie.
»Haben – Sie – Karten – für – Modern – Times ?«
»Ja.«
»Zwei Stück. Weit hinten, in der Mitte. Zwei.«
Sicherheitshalber hob ich zwei Finger.
Sie druckte die Karten aus, legte sie wortlos vor mir auf den Tresen und strich den Hunderter ein wenig glatt, ehe sie ihn in die Kasse legte. Ich ging in die Bar, die voller Menschen war, sah Linda an der Theke und zwängte mich neben sie.
»Ich liebe
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