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Lieben: Roman (German Edition)

Lieben: Roman (German Edition)

Titel: Lieben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
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wer du bist, dich hierin zu vertiefen? Das sagten Osip Mandelstams Gedichte, das sagten Ezra Pounds Gedichte, das sagten Gottfried Benns Gedichte, das sagten Johannes Bobrowskis Gedichte. Man musste es sich verdienen, sie zu lesen.
    Wie?
    Das war einfach. Man schlug ein Buch auf, las, und wenn sich die Gedichte öffneten, verdiente man es, wenn nicht, verdiente man es nicht. Dass ich jemand war, dem sie sich nicht öffneten, quälte mich insbesondere, als ich Anfang zwanzig und noch voller Flausen darüber war, was ich sein konnte. Denn dass sich die Gedichte nicht öffneten, hatte weitreichende Konsequenzen, wesentlich weitreichendere als nur die Tatsache, dass ich von einem literarischen Genre ausgeschlossen wurde. Es fällte zudem ein Urteil über mich. Die Gedichte sahen in eine andere Wirklichkeit oder sahen die Wirklichkeit in einer anderen Weise, die wahrer war als diese, und dass sich diese Fähigkeit zu sehen nicht erlernen ließ, sondern etwas war, wozu man Zugang hatte oder nicht, verurteilte mich zu einem Leben im Gemeinen, machte mich zu einem der Gemeinen. Der Schmerz angesichts dieser Erkenntnis war groß. Und
streng genommen gab es nur drei Wege, ihm zu begegnen. Der erste bestand darin, sich selber einzugestehen und zu akzeptieren, dass es so war. Ich war ein ganz gewöhnlicher Mann, der ein ganz gewöhnliches Leben führen und einen Sinn finden würde, wo ich mich gerade befand, an keinem anderen Ort. In der Praxis sah es auch ganz danach aus. Ich schaute gerne Fußball und spielte selbst, wenn sich die Möglichkeit dazu ergab, ich mochte Popmusik und spielte zweimal in der Woche Schlagzeug in einer Band, ich besuchte ein paar Vorlesungen an der Universität, ging häufig aus oder lag abends zu Hause auf der Couch und sah mit der Frau, mit der ich damals zusammen war, fern. Der zweite bestand darin, es kategorisch zu leugnen, indem man sich sagte, dass man es in sich hatte, es nur noch nicht umgesetzt worden war, um anschließend ein Leben in der Literatur zu führen, vielleicht als Kritiker, vielleicht als Dozent an der Universität, vielleicht als Schriftsteller, denn es war durchaus möglich, sich in dieser Welt zu behaupten, ohne dass sich die Literatur einem jemals öffnete. So konnte man eine ganze Abhandlung über Hölderlin verfassen, indem man seine Gedichte beschrieb und diskutierte, worum es in ihnen ging und wie sich dies in Syntax, Wortwahl, Bildsprache ausdrückte, man könnte über das Verhältnis des Griechischen zum Christlichen schreiben, über die Rolle der Landschaft in den Gedichten, über die Rolle des Wetters oder darüber, welche Beziehung die Gedichte zur realen politischhistorischen Wirklichkeit hatten, in der sie entstanden waren, ob der Schwerpunkt nun auf dem Biographischen lag, beispielsweise seiner deutschen protestantischen Herkunft, oder auf dem enormen Einfluss, den die Französische Revolution hatte. Man konnte über das Verhältnis zu den anderen deutschen Idealisten schreiben, Goethe, Schiller, Hegel, Novalis, oder über das Verhältnis zu Pindar in den späten Gedichten. Man konnte über seine unorthodoxen Sophokles-Übersetzungen
schreiben oder die Gedichte im Lichte dessen lesen, was er in seinen Briefen über Dichtung schreibt. Man konnte Hölderlins Lyrik auch im Hinblick auf Heideggers Verständnis seiner Dichtung lesen oder einen Schritt weitergehen und Heideggers und Adornos gegensätzliche Positionen zu Hölderlin zum Ausgangspunkt machen. Man konnte auch über die gesamte Rezeptionsgeschichte oder über die Übersetzungsgeschichte schreiben. All das ließ sich durchführen, ohne dass sich einem Hölderlins Dichtung jemals öffnete. So konnte man mit allen Dichtern verfahren, was natürlich auch getan wurde. War man bereit, hart zu arbeiten, konnte man zudem selbst Gedichte schreiben, wenn man zu den Menschen gehörte, denen sich die Dichtung nicht öffnete; den Unterschied zwischen einem Gedicht und einem Gedicht, das einem Gedicht ähnelt, wird ohnehin nur ein Dichter erkennen. Von diesen zwei Methoden war die erste, es zu akzeptieren, die beste, aber auch schwierigste. Die zweite Methode, es zu leugnen, war leichter, aber auch unangenehmer, weil man unablässig der Erkenntnis nahe war, dass es keinen Wert hatte, was man tat. Und lebte man das literarische Leben, war man doch gerade auf der Suche nach Wert. Die dritte Methode, die darauf hinauslief, die ganze Problemstellung zu negieren, war deshalb die beste. Es gibt nichts Höheres. Es gibt keine

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