Lieben: Roman (German Edition)
privilegierte Erkenntnis. Nichts ist besser oder wahrer als anderes. Wenn die Gedichte sich mir nicht öffneten, hieß dies nicht automatisch, dass ich tiefer stand als sie oder meine Texte automatisch einen geringeren Wert hatten. Beides, die Gedichte, die sich mir nicht öffneten, und das, was ich schrieb, waren doch letztlich das Gleiche, nämlich Text. Sollten meine tatsächlich schlechter sein, was sie natürlich waren, so war dies nicht das Ergebnis eines unumstößlichen Zustands, dass ich es nicht in mir hatte, sondern etwas, was sich durch harte Arbeit und größer werdende Erfahrung verändern lassen würde.
Bis zu einer gewissen Grenze natürlich. Begriffe wie Talent und Qualität waren immer noch unausweichlich, es konnten natürlich nicht alle gleich gut schreiben. Am wichtigsten war, dass es keinen Abgrund, nichts Unüberwindliches zwischen denen gab, die es hatten, und denen, die es nicht hatten; jenen, die sahen, und jenen, die nicht sahen. Stattdessen handelte es sich um eine Frage von Abstufungen auf derselben Skala. Das war ein dankbarer Gedanke, es fiel nicht weiter schwer, ihn zu begrüßen, immerhin war er ab Mitte der sechziger Jahre bis in die jetzige Zeit in allen Kunst-, Kritiker- und Universitätsmilieus alleinherrschend gewesen. Meine Vorstellungen, die ein so selbstverständlicher Teil meiner selbst gewesen waren, weshalb ich nicht einmal wusste, dass es Vorstellungen waren, und die ich folglich niemals ausgesprochen, nur gefühlt hatte, die mich aber dennoch geleitet hatten, waren ja Romantik in ihrer reinsten Form, also etwas Entlegenes. Die wenigen, die sich ernsthaft mit der Romantik beschäftigten, interessierten sich für jene Seiten, die in die Vorstellungswelt unserer Zeit passten, zum Beispiel das Fragmentarische oder Ironische. Für mich war hingegen nicht die Romantik entscheidend – wenn ich mich zu einer Epoche hingezogen fühlte, dann war es der Barock, seine Räumlichkeit, seine schwindelnden Höhen und Tiefen, seine Vorstellungen vom Leben als Schauspiel, Spiegel und Körper, Licht und Dunkelheit, Kunst und Wissenschaft, zogen mich an –, sondern mein Gefühl, außerhalb des Wesentlichen zu stehen, außerhalb des Wichtigsten, außerhalb dessen, was das Dasein im tiefsten Inneren ausmachte. Ob dieses Gefühl romantisch war oder nicht, spielte keine Rolle. Um den Schmerz zu betäuben, den es auslöste, hatte ich mich stets auf alle drei genannten Arten verteidigt und während langer Phasen an sie geglaubt, vor allem an die letzte. Dass meine Vorstellung von der Kunst als dem Ort, an dem das Feuer der Wahrheit und Schönheit brannte, als letztem Ort,
an dem das Leben sein wahres Gesicht zeigen konnte, überspannt war. Manchmal brach sie sich jedoch Bahn. Nicht als Gedanke, denn als solcher konnte sie verworfen werden, sondern als Gefühl. Alles in mir wusste, dass es eine Lüge war, dass ich mich betrog. Das war der Stand der Dinge, als ich an diesem Nachmittag im März 2002 im Eingang vor dem Haus des Schwedischen Schriftstellerverbands in Stockholm stand und in Aris Fioretos’ Übersetzung von Hölderlins letzten großen Hymnen blätterte.
Oh, ich Elender.
Vor dem Eingang glitt ein Strom aus immer neuen Menschen vorbei. Das Licht der Straßenlaternen, die an Stahlseilen über der Straße hingen, glänzte in Steppjacken und Tragetaschen, Asphalt und Metall. Ein schwacher Klangteppich aus Schritten und Stimmen glitt in den Raum zwischen den Häuserreihen. Auf einem Fensterbrett in der ersten Etage hockten regungslos zwei Tauben. Am Ende der Markisenschiene, die von der Wand des Gebäudes vorragte, an dem ich stand, sammelte sich das Wasser in dicken Tropfen, die sich regelmäßig lösten und zur Erde fielen. Das Buch hatte ich in den Rucksack gelegt, und nun zog ich das Handy aus der Jackentasche, um zu sehen, wie viel Uhr es war. Das Display war dunkel, so dass ich es einschaltete, während ich die Straße hinaufging. Eine SMS wurde empfangen. Sie war von Tonje
Bist du gut angekommen? Denke an dich.
Die zwei Sätze beschworen sie plötzlich herauf. Ihr Bild, der Mensch, der sie für mich war, ergriff für einen Moment Besitz von mir. Nicht nur ihr Gesicht und ihre ganze Art, wie es ist, wenn man an jemanden denkt, den man kennt, sondern alles, was ihr Gesicht sein konnte, all das Undefinierbare, gleichwohl ungeheuer Deutliche, das ein Mensch für jemanden ausstrahlt, der ihn liebt. Ihr antworten wollte ich jedoch nicht. Es war ja der eigentliche Sinn meiner Abreise
Weitere Kostenlose Bücher