Lieben: Roman (German Edition)
gewesen, von
ihr fortzukommen, und während mich eine Welle der Trauer durchspülte, löschte ich die SMS und klickte zu dem Bild mit der Uhrzeitanzeige.
16.21
Dann blieb mir noch etwas über eine halbe Stunde, bis ich Geir treffen würde.
Oder hatten wir halb fünf gesagt?«
War es so?
Verdammt, es war so! Um halb fünf wollten wir uns treffen, nicht um fünf.
Ich drehte mich um und lief die Straße hinunter. Zwei Häuserblocks weiter blieb ich stehen, um wieder zu Atem zu kommen. Der Mann, der das pfeilförmige Schild hielt, sah mich mit trägen Augen an. Ich nahm es als ein Zeichen und bog in die Straße, in die sein Pfeil zeigte. Als ich die Kreuzung an ihrem Ende erreichte, lag tatsächlich der Hauptbahnhof vor mir, denn an der Wand am hinteren Ende eines kurzen Straßenstücks erblickte ich ein gelbes Schild mit der Aufschrift Arlanda Express . Die Flughafen-S-Bahn. Es war 16.26. Wenn ich pünktlich kommen wollte, musste ich auch das letzte Stück laufen. Über die Straße, ins Terminal der Flughafenbahn, den Bahnsteig hinunter, in die Vorhalle, an den Kiosks und Cafés vorbei, den Bänken und Gepäckfächern und in die Bahnhofshalle, wo ich stehen blieb und so außer Atem war, dass ich mich vorbeugen und die Hände auf die Knie stützen musste.
Wir hatten verabredet, uns an einem kreisrunden Geländer in der Hallenmitte zu treffen, von wo aus man in die untere Etage hinabsehen konnte. Als ich mich aufrichtete, um mich danach umzuschauen, war es genau halb.
Da.
Ich wählte einen etwas umständlichen Weg dorthin, an der Reihe der Kioske vorbei, und stellte mich in einiger Entfernung
an die Wand, um Geir sehen zu können, bevor er mich sah. Zwölf Jahre war es her, dass ich ihn gesehen hatte, und damals hatten wir uns auch nur vier oder fünf Mal im Laufe von zwei Monaten getroffen, weshalb ich seit seiner Antwort auf meine Mail und seinem Angebot, bei ihnen wohnen zu können, in der Furcht lebte, ihn womöglich nicht wiederzuerkennen. Das heißt, »wieder« war vielleicht nicht das richtige Wort, denn ich hatte schlicht und ergreifend kein Bild von ihm im Kopf. Wenn ich an Geir dachte, sah ich nicht sein Gesicht vor mir, sondern die Buchstaben seines Namens, also »Geir«, und ein vages Bild von jemandem, der lachte. Die einzige Episode mit ihm, an die ich mich erinnerte, spielte sich in der Bar des Fekterloftet in Bergen ab. Geir, der lachend meinte, du bist ja ein Existentialist! Ich hatte keine Ahnung, warum ich mich ausgerechnet daran erinnerte. Vielleicht, weil ich damals nicht wusste, was ein »Existentialist« war? Und mich geschmeichelt fühlte, weil meine Ansichten in eine bekannte philosophische Richtung passten?
Ich wusste immer noch nicht, was ein Existentialist war. Den Begriff kannte ich, ein paar Namen und eine Zeit hatte ich im Kopf, den genauen Inhalt hätte ich dagegen nicht wiedergeben können.
Der König des Ungefähren war ich.
Ich streifte den Rucksack ab, stellte ihn zwischen meinen Füßen auf den Boden und bewegte die Schultern ein wenig vor und zurück, während ich mir die Leute ansah, die an dem Geländer standen. Keiner von ihnen konnte Geir sein. Wenn jemand auftauchte, der dem wenigen entsprach, was ich wusste, würde ich zu ihm gehen und hoffen, dass er mich erkannte. Schlimmstenfalls fragen: Bist du Geir?
Ich schaute auf die Uhr am Kopfende der Halle. Fünf nach halb.
War es doch fünf gewesen?
Aus irgendeinem Grund war ich mir sicher, dass er ein pünktlicher Mensch war. Wenn es so war, mussten wir uns um fünf Uhr verabredet haben. In der Vorhalle hatte ich ein Internetcafé gesehen, und nachdem ich noch ein paar Minuten gewartet hatte, ging ich dorthin, um mir die Uhrzeit bestätigen zu lassen. Außerdem hatte ich das Bedürfnis, seine Mails noch einmal zu lesen, den Ton in ihnen zu hören, damit sich die vor mir liegende Situation eventuell weniger fremd gestalten würde.
Meine bisherigen Verständigungsprobleme veranlassten mich, zu der Frau hinter dem Tresen lediglich fragend Internet zu sagen. Sie nickte und zeigte auf einen der Computer. Ich setzte mich davor, loggte mich in meine Mailbox ein, die fünf neue Nachrichten enthielt, die ich überflog. Sie kamen alle von der Vagant -Redaktion. Obwohl nicht mehr als ein Tag vergangen war, seit ich in Bergen gesessen hatte, kam es mir vor, als würde die Diskussion zwischen Preben, Eirik, Finn und Jørgen auf dem Bildschirm vor mir in einer anderen Welt geführt, in der ich nicht mehr zu Hause war. Als hätte
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