Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lieben: Roman (German Edition)

Lieben: Roman (German Edition)

Titel: Lieben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
Vom Netzwerk:
ihn ereilt hatte, von den Jahren der geistigen Umnachtung in dem Turm in Tübingen, aber trotzdem hatte mich sein Name seit langem begleitet, seit ich ungefähr sechzehn war, als mein Onkel Kjartan, Mutters zehn Jahre jüngerer Bruder, von ihm zu sprechen begann. Er wohnte als einziges der Geschwister im Elternhaus, einem kleinen Bauernhof in Sørbøvåg in Ytre Sogn, zusammen mit seinen Eltern: Großvater, der damals auf die achtzig zuging, aber dennoch vital und sehr beweglich war, und Großmutter, die an einem fortgeschrittenen Stadium von Parkinson litt und der folglich bei fast allem geholfen werden musste. Außer dem Hof, der Zeit und Kraft kostete, auch wenn er nur zwanzig Ar groß war, und der im Prinzip ganztägigen Pflege der Mutter, arbeitete er zudem als Schiffsrohrinstallateur auf einer etwa zehn
Kilometer entfernten Werft. Er war ein äußerst sensibler Mann, zart wie die zarteste Pflanze, dem jedes Interesse und jede Befähigung für die praktischen Seiten des Lebens abging, so dass er sich zu allem, was er tat, was seinen Alltag ausmachte, zwingen musste. Tag für Tag, Monat für Monat, Jahr für Jahr. Reiner, roher Wille. Dass es so gekommen war, lag nicht unbedingt daran, dass er es nie geschafft hätte, mit den Bedingungen zu brechen, in die er hineingeboren worden war, wie man vielleicht hätte annehmen können, oder daran, dass er bloß im Bekannten verharrte, weil es bekannt war, sondern war eher eine Folge seiner empfindsamen Natur. Denn wohin konnte sich ein junger Mann mit einem Hang zum Idealen und Vollkommenen Mitte der siebziger Jahre wenden? Wäre er in den zwanziger Jahren jung gewesen wie sein Vater, wäre es möglicherweise die vitale, naturbegeisterte, spätromantische Strömung gewesen, von der die Kultur damals durchzogen war, jedenfalls der neunorwegisch schreibende Teil, in der er sich heimisch gefühlt hätte, in der Autoren wie Olav Nygard, Olav Duun, Kristoffer Uppdal und Olav Aukrust schrieben und die Olav Hauge später in unsere Zeit überführen sollte; wäre er in den fünfziger Jahren jung gewesen, hätte er sich womöglich den kulturradikalen Vorstellungen und Theorien zugewandt, wenn ihn nicht vorher deren Gegenteil, die langsam aussterbenden kulturkonservativen Kräfte gepackt hätten. Doch seine Jugend fiel weder in die zwanziger noch in die fünfziger Jahre, und so wurde er Mitglied der Marxistisch-Leninistischen Kommunistischen Arbeiterpartei und proletarisierte sich selbst, wie man damals sagte. Er begann, Rohre in Schiffen zu verlegen, weil er an eine bessere Welt als diese glaubte. Nicht nur für ein paar Monate oder wenige Jahre, wie es bei den meisten seiner Gesinnungsgenossen der Fall war, sondern fast zwei Jahrzehnte lang. Als einer von ganz wenigen gab er seine Ideale nicht auf, als sich die
Zeiten änderten, sondern hielt an ihnen fest, obwohl der Preis dafür, gesellschaftlich und privat, im Laufe der Jahre immer höher wurde. Ein Kommunist in einer dörflichen Region zu sein, war etwas anderes, als Kommunist in einer Stadt zu sein. In einer Stadt stand man damit nicht allein, es gab andere, Gleichgesinnte, eine Gemeinschaft, während die eigenen Überzeugungen nicht in jedem Zusammenhang sichtbar wurden. Auf dem Land war man »der Kommunist«. Das war seine Identität, das war sein Leben. Anfang der siebziger Jahre Kommunist zu sein, als man von einer Welle getragen wurde, war zudem etwas anderes, als Kommunist in den Achtzigern zu sein, als alle Ratten längst das sinkende Schiff verlassen hatten. Ein einsamer Kommunist klingt paradox, aber so verhielt es sich bei Kjartan. Ich erinnere mich, dass mein Vater oft mit ihm diskutierte, wenn wir im Sommer Großmutter und Großvater besuchten, an ihre lauten Stimmen aus dem Wohnzimmer, wenn wir im Bett lagen und schlafen sollten, und obwohl ich es weder artikulieren noch denken konnte, ahnte ich doch, dass es einen grundlegenden Unterschied zwischen ihnen gab. In den Augen meines Vaters handelte es sich um eine abgegrenzte Diskussion, in der es darum ging, Kjartan über seine Irrwege aufzuklären, für Kjartan ging es um Leben oder Tod, um alles oder nichts. Daher der Ärger in der Stimme meines Vaters, die Glut in Kjartans. Es wurde auch deutlich, in meinem Empfinden jedenfalls, dass mein Vater von der Wirklichkeit ausging; was er sagte und meinte, gehörte zum Hier , gehörte zu uns , zu unseren Schultagen und Fußballspielen, unseren Comics und Angelausflügen, unserem Schneeschaufeln und Samstagshaferbrei,

Weitere Kostenlose Bücher