Lieben: Roman (German Edition)
Großvater feierten, wo Kjartan, inzwischen Mitte dreißig, immer noch lebte und arbeitete. Die vier, fünf Weihnachtsfeste dort gehören zweifellos zu den denkwürdigsten, die ich je erlebt habe. Großmutter war krank und saß zusammengekauert am Tisch und zitterte. Ihre Hände zitterten, die Arme zitterten, der Kopf zitterte, die Füße zitterten. Ab und zu bekam sie einen Krampfanfall und musste in einen Stuhl platziert werden, in dem ihre Beine regelrecht nach oben gebrochen und anschließend massiert wurden. Aber ihr Geist war klar, ihre Augen waren klar, sie sah uns und freute sich über uns. Großvater, klein und rundlich und lebhaft, erzählte seine Geschichten, falls er dazu kam, und wenn er lachte, und er lachte immer über seine eigenen Geschichten, dann lachte er Tränen. Aber sonderlich oft kam er nicht dazu, denn Kjartan war da, und Kjartan hatte ein ganzes Jahr lang Heidegger gelesen und war von Heidegger erfüllt worden, mitten in seinem anstrengenden, sinnlosen Arbeitsleben hatte er das getan, ohne eine Menschenseele zu haben, mit der er sich austauschen konnte, denn im Umkreis vieler Kilometer hatte niemand jemals von Heidegger gehört, und es wollte auch niemand etwas von Heidegger hören, obwohl ich ahnte, dass er es versucht hatte, das musste er einfach getan haben, so erfüllt, wie er davon war, aber natürlich vergebens, denn niemand begriff, niemand wollte begreifen, damit blieb er allein, und dann kamen wir zur Tür herein, seine Schwester Sissel, die Krankenpflegelehrerin war, sich für Politik und Literatur interessierte, sich für Philosophie interessierte, ihr Sohn Yngve, der studierte, wovon Kjartan immer geträumt hatte und in den letzten Jahren immer mehr, und ihr Sohn Karl Ove. Ich war siebzehn, ich ging aufs Gymnasium, und obwohl ich kein Wort
von dem verstand, was er in seinen Gedichten schrieb, wusste er, dass ich Bücher las. Das reichte ihm. Wir kamen herein, und seine Schleusen öffneten sich. Alles, was er im letzten Jahr an Gedanken gesammelt hatte, strömte heraus. Es spielte keine Rolle, dass wir nichts verstanden, es spielte keine Rolle, dass Heiligabend war und geräucherte Hammelrippchen, Kartoffeln, Kohlrabipüree, Weihnachtsbier und Aquavit auf dem Tisch standen; er sprach über Heidegger, von innen heraus, ohne ein einziges kommunizierendes Bindeglied zur Außenwelt, da gab es das Dasein und Das Man, es gab Trakl und Hölderlin, es gab den großen Dichter Hölderlin, es gab Heraklit und Sokrates, Nietzsche und Platon, es gab die Vögel in den Bäumen und die Wellen im Fjord, es gab das Dasein der Menschen und das Auftauchen der Existenz, es gab die Sonne am Himmel und den Regen in der Luft, die Augen der Katze und das Stürzen des Wasserfalls. Mit zerzausten Haaren, schief sitzendem Jackett und einer Krawatte voller Flecken saß er dort und redete, seine Augen glühten, sie glühten wirklich, und ich werde es nie vergessen, denn draußen herrschte vollkommene Finsternis, der Regen schlug gegen die Fenster, es war Heiligabend in Norwegen 1986, unser Heiligabend, die Geschenke lagen unter dem Baum, alles war geschmückt, und das einzige Gesprächsthema hieß Heidegger. Großmutter zitterte, Großvater saß da und nagte an einem Knochen, Mutter lauschte aufmerksam, Yngve hörte nicht mehr hin. Ich selbst stand dem Ganzen teilnahmslos gegenüber und freute mich in erster Linie, weil Weihnachten war. Aber obwohl ich nichts von dem verstand, was Kjartan sagte, und nichts von dem, was er schrieb, und auch nichts von den Gedichten, die er so inbrünstig pries, erkannte ich intuitiv, dass er Recht hatte, dass es eine höchste Philosophie und eine höchste Dichtung gab, und wenn man sie nicht verstand, wenn man es nicht schaffte, Anteil an ihr zu nehmen, war man selber schuld.
Wenn ich seither an das Höchste gedacht habe, ist mir stets Hölderlin in den Sinn gekommen, und wenn ich an Hölderlin gedacht habe, ist dies immer mit dem Gebirge und dem Fjord, der Nacht und dem Regen, dem Himmel und der Erde und den glühenden Augen meines Onkels verbunden gewesen.
Obwohl sich in meinem Leben seither vieles verändert hatte, war mein Verhältnis zur Lyrik im Grunde gleich geblieben. Ich las Gedichte, aber sie öffneten sich mir nie, weil ich kein »Recht« auf sie hatte: Sie waren nicht für mich. Wenn ich mich ihnen näherte, fühlte ich mich wie eine Art Betrüger und wurde auch stets entlarvt, denn was sie ebenfalls immer sagten, diese Gedichte, war: Was glaubst du eigentlich,
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