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Lieben: Roman (German Edition)

Lieben: Roman (German Edition)

Titel: Lieben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
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während Kjartan von etwas anderem ausging, das andernorts heimisch war. Natürlich konnte er nicht zustimmen, dass alles, woran er glaubte und wofür er in gewisser Weise sein Leben geopfert hatte, nichts mit der Wirklichkeit zu tun hatte, wie mein Vater und mit ihm die
meisten anderen jedes Mal behaupteten. Dass die Wirklichkeit nicht so war, wie Kjartan sie sah, und auch niemals sein würde. Das hätte ihn zu einem Träumer gemacht. Und ein Träumer war er eben nicht ! Es war doch gerade die konkrete, materielle, physische, bodenständige Wirklichkeit, womit er sich auseinandersetzte! Die Situation war zutiefst ironisch. Er, der Theorien über Zusammenhalt und Solidarität verteidigte, war es, der ausgestoßen wurde und alleine stand. Er, der die Welt idealistisch und abstrakt betrachtete, er, der eine feinsinnigere Seele hatte als sie alle, war es, der trug und schleppte, hämmerte und klopfte, schweißte und schraubte, kroch und krabbelte in Schiff auf Schiff, er war es, der Kühe melkte und fütterte, den Mist in den Keller schaufelte und ihn im Frühjahr auf den Wiesen verteilte, er schlug das Gras und trocknete das Heu, hielt die Gebäude instand und kümmerte sich um seine Mutter, die Jahr für Jahr hilfsbedürftiger wurde. Das wurde sein Leben. Dass der Kommunismus Anfang der achtziger Jahre allmählich ausklang und die intensiven Diskussionen, die er in alle Richtungen geführt hatte, unmerklich seltener wurden, bis sie eines Tages völlig verschwunden waren, veränderte vielleicht seinen Sinn, den Inhalt jedoch nicht. Es ging weiter wie bisher, mit dem gleichen Kurs: aufstehen und im Morgengrauen Kühe melken und füttern, den Bus zur Werft nehmen, den ganzen Tag arbeiten, nach Hause kommen und sich um die Eltern kümmern, mit seiner Mutter eine Runde durchs Zimmer gehen, wenn sie dazu in der Lage war, oder ihre Beine beugen und massieren, ihr auf die Toilette helfen, ihr vielleicht Kleider für den nächsten Tag heraussuchen und erledigen, was draußen erforderlich war, ob es nun darum ging, die Kühe hereinzuholen und zu melken oder etwas anderes zu tun. Danach ging er zu sich und aß und schlief bis zum nächsten Morgen – wenn sich denn Großmutters Zustand in der Nacht nicht so verschlechterte, dass Großvater ihn holen
kam. Das war Kjartans Leben, so sah es von außen aus. Als seine kommunistische Phase begann, war ich gerade einmal zwei oder drei Jahre alt, und als sie endete, jedenfalls ihr aktiv rhetorischer Teil, hatte ich gerade die neunte Klasse beendet, so dass dies alles nur eine Art vager Hintergrund in dem Bild war, das ich von ihm hatte, als ich sechzehn wurde und anfing, mich dafür zu interessieren, wer Menschen »waren«. Weitaus wichtiger für das Bild war jedoch die Tatsache, dass er Gedichte schrieb. Nicht weil mich Gedichte interessierten, sondern weil es mehr über ihn »sagte«. Denn Gedichte schrieb man nicht, wenn man sich nicht dazu gezwungen sah, also ein Dichter war. Er sprach nie mit uns darüber, verbarg es aber auch nicht. Jedenfalls wussten wir davon. In dem einen Jahr wurde eines seiner Gedichte in Dag og Tid abgedruckt, in einem anderen in Klassekampen , kleine, schlichte Bilder aus einer Arbeiterwirklichkeit, die ihm trotz seiner Scheu ein gewisses Ansehen in der Hatløy-Familie eintrugen, in der Bücher hoch im Kurs standen. Als dann eins seiner Gedichte auf der Rückseite der Literaturzeitschrift Vinduet neben einem Foto von ihm abgedruckt wurde und seinen Gedichten später zwei ganze Seiten in derselben Zeitschrift zugebilligt wurden, war er in unseren Augen ein Vollblutdichter. Zu der Zeit fing er an, sich mit Philosophie zu beschäftigen. Abends saß er in seinem Haus hoch über dem Fjord und kämpfte sich durch Heideggers unglaublich kompliziertes Deutsch in Sein und Zeit , und das wahrscheinlich Wort für Wort, denn er hatte, soweit ich wusste, seit seiner Schulzeit kein Deutsch mehr gelesen oder gesprochen und las die Dichter, über die Heidegger schrieb, insbesondere Hölderlin und die Vorsokratiker, auf die er sich berief, und Nietzsche, Nietzsche. Die Lektüre Heideggers beschrieb er später als eine Art Heimkehr. Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass sie ihn völlig ausfüllte und es eine nahezu religiöse Erfahrung für ihn war. Eine Erweckung, eine
Bekehrung, eine alte Welt wurde mit einer neuen Ordnung gefüllt. Damals hatte mein Vater unsere Familie verlassen, so dass Yngve, meine Mutter und ich Weihnachten mittlerweile bei Großmutter und

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