Lieben: Roman (German Edition)
das Sigurd Slembe , erinnerst du dich?«
»Bei Bjørnson kenne ich mich nicht aus.«
»Ich glaube, es ist Sigurd Slembe . Der richtige Zeitpunkt zum Handeln. Also zu handeln oder nicht zu handeln. Das ist doch klassischer Hamlet. Teilnehmer oder Zuschauer seines eigenen Lebens zu sein.«
»Und du bist?«
»Gute Frage.«
Es entstand eine Pause. Dann sagte er:
»Ich bin wohl eher ein Zuschauer, mit Elementen choreografierter
Handlungen. Aber im Grunde weiß ich es nicht. Ich glaube, in mir gibt es vieles, was ich nicht sehe. Und dann existiert es einfach nicht. Und du?«
»Zuschauer.«
»Aber du stehst hier. Und gestern hast du in Bergen gestanden.«
»Ja. Aber das ist nicht das Ergebnis einer Wahl. Es wurde erzwungen.«
»Aber ist das nicht womöglich auch eine Art zu wählen? Das Geschehen die Arbeit erledigen zu lassen?«
»Vielleicht.«
»Das ist merkwürdig«, sagte er. »Je besinnungsloser du bist, desto mehr bist du Beteiligter. Weißt du, die Boxer, über die ich geschrieben habe, die hatten eine unglaubliche Präsenz. Aber das bedeutete gleichzeitig, dass sie keine Zuschauer ihrer selbst waren, so dass sie sich hinterher an nichts erinnerten. An nichts! Teile diesen Augenblick hier und jetzt mit mir, das war ihr Angebot. Und bei ihnen erfüllt das natürlich eine Funktion, schließlich müssen sie immer wieder in den Ring, und wenn du beim letzten Mal Prügel bezogen hast, ist es wichtig, sich nicht so gut daran zu erinnern, denn sonst bist du erledigt. Aber ihre Präsenz war wirklich einzigartig. Sie füllte alles aus. Vita contemplativa oder vita activa, das sind doch die beiden Formen, nicht wahr? Es ist ein altes Problem, mit dem sich alle Zuschauer herumplagen. Die Beteiligten dagegen nicht. Es ist ein typisches Zuschauerproblem …«
Hinter uns steckte Christina den Kopf zur Tür herein.
»Wollt ihr einen Kaffee?«
»Gern«, sagte ich.
Wir gingen in die Küche und setzten uns an den Tisch. Vom Fenster aus sah man auf die Straße hinab, die im Licht der Laternen leer lag. Ich fragte Christina, was sie gezeichnet hatte, als wir kamen, und sie meinte, dass sie Schuhmodelle
für eine kleine Schuhfabrik im hohen Norden des Landes entwarf. Mir schoss durch den Kopf, wie absurd es war, plötzlich in einer Küche mitten in einer schwedischen Trabantenstadt mit zwei Menschen zusammenzusitzen, die ich nicht kannte. Was tat ich nur? Was wollte ich hier? Christina begann zu kochen, ich saß mit Geir im Wohnzimmer und erzählte von Tonje, wie es uns ergangen war, was vorgefallen war, wie sich mein Leben in Bergen gestaltet hatte. Er fasste in ähnlicher Weise zusammen, was in seinem Leben geschehen war, nachdem er dreizehn Jahre zuvor Bergen verlassen hatte. Am interessantesten erschien mir eine Debatte mit einem schwedischen Professor in der Tageszeitung Svenska Dagbladet , die ihn so wütend gemacht hatte, dass er die letzten, beleidigenden Argumente in Uppsala an die Schlosstüren genagelt hatte wie ein zweiter Luther. Er hatte sogar versucht, an die Tür zu pinkeln, aber da hatte Christina ihn weggezogen.
Wir aßen Lammfrikadellen, Bratkartoffeln und griechischen Salat. Ich hatte einen Mordshunger, die Teller waren auf einen Schlag leer, und Christina machte ein schuldbewusstes Gesicht. Auf ihre Entschuldigungen reagierte ich mit Gegenentschuldigungen. Sie war offensichtlich vom gleichen Schlag wie ich. Wir tranken ein wenig Wein und unterhielten uns über die Unterschiede zwischen Schweden und Norwegen, und während ich insgeheim dachte, nein, so ist Schweden nicht, und so ist Norwegen nicht, nickte ich und stimmte zu. Gegen elf konnte ich die Augen kaum noch offen halten, Geir holte Bettzeug, ich würde auf der Couch im Wohnzimmer schlafen, und während wir sie mit dem Laken bezogen, veränderte sich plötzlich sein Gesicht. Er hatte ein völlig anderes Gesicht . Dann veränderte es sich zurück, und ich musste mich anstrengen, um es festzuhalten, so sah er aus, das war er.
Es veränderte sich erneut.
Ich steckte den letzten Zipfel des Lakens unter das Polster und setzte mich auf die Couch. Meine Hände zitterten. Was ging hier vor?
Er drehte sich zu mir um. Nun hatte er wieder das Gesicht, das er hatte, als ich ihn im Hauptbahnhof getroffen hatte.
»Ich habe noch gar nichts zu deinem Roman gesagt«, meinte er und setzte sich auf die andere Seite des Tisches, »aber er hat einen unauslöschlichen Eindruck auf mich gemacht. Ich war tief erschüttert, als ich ihn ausgelesen
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