Lieben: Roman (German Edition)
norwegischer Professor im Fernsehen äußert, was höchst selten vorkommt, denn für Norwegen interessiert sich hier kein Schwein, Norwegen existiert in Schweden nicht, aber manchmal kommt es eben trotzdem vor, dann sieht er aus wie ein Wilder, mit wirren Haaren und ungepflegten oder unorthodoxen Kleidern, und sagt Dinge, die er nicht sagen soll. In Norwegen gehört es ja zur akademischen Tradition, dass Bildung keinen äußeren Ausdruck hat oder haben soll … Oder dass der äußere akademische Ausdruck das Idiosynkratische und Individuelle widerspiegeln soll. Und nicht das Allgemeine und Kollektive wie hier. Aber das versteht natürlich keiner. Hier sehen sie nur den Wilden. In Schweden glaubt jeder, das Schwedische wäre das einzig mögliche. Jede Abweichung vom Schwedischen empfinden sie als Fehler und Mangel. Man ärgert sich tot darüber. Ja genau, Jon Bing war der Professor, den ich gesehen habe. Er sah vollkommen irre aus. Lange Haare und Bart, und eine Strickjacke, glaube ich.
Ein schwedischer Akademiker sieht proper aus, benimmt sich proper, sagt, was alle von ihm erwarten, und das in einer Weise, die alle von ihm erwarten. Hier benehmen sich übrigens alle proper. Will sagen, in der Öffentlichkeit. Auf der Straße sieht das dann schon ein bisschen anders aus. Vor ein paar Jahren haben sie in diesem Land nämlich alle Psychiatriepatienten laufen lassen. Die sieht man jetzt überall herumrennen und murmeln und schreien. Ansonsten ist es so geregelt, dass die Armen in bestimmten Stadtteilen wohnen, die Betuchten in bestimmten Stadtteilen, die Leute, die im Kulturbereich tätig sind, in bestimmten Stadtteilen, die Einwanderer
in bestimmten Stadtteilen. Das wirst du alles nach und nach kapieren.«
Er hob die Kaffeetasse an den Mund und trank einen Schluck. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Was er erzählt hatte, ergab sich nicht aus der Situation, wenn man einmal davon absah, dass ich gerade aus Norwegen gekommen war, und war so zusammengefügt, kam in einem so zusammenhängenden Strom, dass es wirkte, als wäre es vorher fertig gewesen. Es war etwas, das er sagte , erkannte ich, es war eines seiner Themen. Meine Erfahrung mit dem Menschenschlag, der Themen hat, sagte mir, dass es abzuwarten galt, bis der größte aufgestaute Druck abgelassen war, denn meistens gab es jenseits davon eine andere Art von Aufmerksamkeit und Präsenz. Ob er mit seinen Behauptungen Recht hatte, wusste ich nicht, ahnte lediglich, dass sie von Frustration getrieben waren und er eigentlich darüber sprach, was der Grund für seine Frustration war. Vielleicht war es Schweden. Vielleicht war es etwas in ihm selbst. Für mich spielte das keine Rolle, er konnte reden, worüber er wollte, deshalb saß ich nicht hier.
»Sport und akademisches Milieu lassen sich in Norwegen genauso vereinbaren wie Biertrinken und akademisches Milieu«, sagte er. »Daran erinnere ich mich noch aus Bergen. Sport war unter den Studenten ein großes Ding. Hier sind das dagegen unvereinbare Größen. Ich rede nicht über Naturwissenschaftler, sondern Intellektuelle. Hier wird das Intellektuelle in akademischen Kreisen hervorgehoben, es ist das Einzige, was es geben darf, alles hat sich dem Intellekt unterzuordnen. Der Körper ist beispielsweise völlig abwesend. In Norwegen wird das Intellektuelle dagegen eher heruntergespielt. Deshalb ist alles Volkstümliche für einen Akademiker in Norwegen kein Problem. Die Idee ist wohl, dass die Umgebung den Intellekt zum Funkeln bringen soll wie ein Diamant.
In Schweden soll auch die Umgebung des Intellekts funkeln. Mit der Hochkultur ist es das Gleiche. In Norwegen wird sie heruntergespielt, eigentlich darf es sie nicht geben, elitäre Kultur darf es im Grunde überhaupt nicht geben, wenn sie nicht gleichzeitig volkstümlich ist. In Schweden wird sie hervorgehoben. Das Volkstümliche und das Elitäre sind hier unvereinbare Größen. Das eine soll da sein, das andere soll da sein, ein Austausch zwischen beiden ist nicht vorgesehen. Es gibt Ausnahmen, die gibt es immer, aber so lautet die wichtigste Regel. Bei einem anderen großen Unterschied zwischen Norwegen und Schweden geht es um Rollen. Als ich das letzte Mal zu Hause war, nahm ich den Bus von Arendal nach Kristiansand, und der Busfahrer erzählte, dass er eigentlich gar kein Busfahrer ist, dass er eigentlich etwas anderes ist und den Job nur zur Aushilfe an Weihnachten macht. Und dass wir uns an den Feiertagen um unsere Mitmenschen kümmern sollen. Das
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