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Lieben: Roman (German Edition)

Lieben: Roman (German Edition)

Titel: Lieben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
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Gleichzeitig gab es große Lücken in meinem Gedächtnis, denn als ich dort oben lebte, hatte ich viel getrunken, genau wie die jungen Fischer, mit denen ich an den Wochenenden herumhing, und eine Flasche Schnaps wurde dort im Laufe eines Abends mindestens geleert. Ganze Abende und Nächte waren aus meiner Erinnerung verschwunden und lagen wie eine Art Tunnel in mir, voller Dunkelheit und Wind und meiner kreischenden Gefühle. Was hatte ich getan? Was hatte ich getan? Als ich mein Studium in Bergen begann, ging es weiter, ganze Abende und Nächte verschwanden, ich lief frei in der Stadt herum, so empfand ich es, kam einmal mit einer Jackenbrust voller Blut nach Hause, was war passiert? Kam in Kleidern nach Hause, die nicht meine eigenen waren. Wachte auf einem Dach auf, wachte unter einem Strauch im Park auf und ein anderes Mal im Korridor einer Klinik. Daraufhin war die Polizei gekommen und hatte mich mitgenommen. Es folgten Vernehmungen: In der Nähe war eingebrochen und Geld gestohlen worden, war ich das gewesen? Ich wusste es nicht, sagte aber nein, nein, nein. All diese Lücken, diese bewusstlose Dunkelheit über so viele Jahre hinweg, in der sich zuweilen irgendein rätselhaftes, fast gespenstisches Ereignis am äußersten Rand der Erinnerung abspielte, hatten mich mit Schuld erfüllt, großen Mengen Schuld, und wenn Geir nun erklärte, dass ich ihm damals erzählt hätte, ich hätte in Nordnorwegen eine Beziehung zu einer Dreizehnjährigen gehabt, konnte ich nicht, Hand aufs Herz, Nein, das stimmt nicht sagen, denn es gab Zweifel, damals war so viel passiert, warum also nicht auch das?
    Teil dieses Ballasts war zudem, was zwischen Tonje und mir geschehen war, und nicht zuletzt, was noch passieren würde.
    Hatte ich sie verlassen? War unser gemeinsames Leben vorbei? Oder würde dies nur eine Pause sein, eine Trennung von
ein paar Monaten, in denen jeder für sich noch einmal über alles nachdachte?
    Wir waren seit acht Jahren zusammen, seit sechs Jahren verheiratet. Sie war nach wie vor der Mensch, der mir am nächsten stand, es war nur einen Tag her, dass wir das Bett geteilt hatten, und wenn ich mich jetzt nicht abwandte und in eine andere Richtung blickte, würde es wohl so bleiben, denn ich ahnte, dass es meine Entscheidung war.
    Was wollte ich?
    Ich wusste es nicht.
    Ich lag auf einer Couch in einer Wohnung vor den Toren Stockholms, wo ich keinen Menschen kannte, und alles in mir war Chaos und Unruhe. Die Unsicherheit reichte bis in den Kern hinein, bis in das, was definierte, wer ich war.
    In der Glastür zu dem kleinen Balkon zeigte sich ein Gesicht. Es verschwand, während ich es anstarrte. Mein Herz schlug schneller. Ich schloss die Augen, und dasselbe Gesicht zeigte sich mir erneut. Ich sah es von der Seite, es wandte sich mir zu und starrte mich direkt an. Es veränderte sich. Es veränderte sich erneut. Es veränderte sich nochmals. Ich hatte keines dieser Gesichter je zuvor gesehen, aber alle waren zutiefst realistisch und prägnant. Was war das für eine Parade? Dann wurde aus der Nase ein Schnabel, die Augen wurden zu Raubvogelaugen, und plötzlich saß ein Falke in meinem Inneren und starrte mich an.
    Ich legte mich auf die Seite.
    Ich wollte nur eins, ein anständiger Mensch sein. Ein guter, ehrlicher und rechtschaffener Mensch, dem die Leute in die Augen sahen und bei dem alle wussten, man konnte sich auf ihn verlassen.
    Doch das traf nicht zu. Ich war ein Drückeberger und hatte schreckliche Dinge getan. Und jetzt hatte ich mich wieder gedrückt.
     
    Am nächsten Morgen weckte mich Geirs laute Stimme. Er setzte sich ans Fußende der Couch und hielt mir eine Tasse brühend heißen Kaffee hin.
    »Guten Morgen!«, sagte er. »Es ist sieben Uhr! Sag mir jetzt bitte nicht, dass du ein Nachtmensch bist.«
    Ich setzte mich auf und blinzelte ihn an.
    »Ich stehe in der Regel so gegen eins auf«, sagte ich, »und kann erst mit anderen reden, wenn eine Stunde vergangen ist.«
    »Pech für dich!«, sagte Geir. »Aber wie dem auch sei. Ein Zuschauer meines eigenen Lebens bin ich nicht, das stimmt einfach nicht. Ich sehe andere, darin bin ich gut, aber ich sehe mich nicht selbst. Keine Chance. Außerdem ist Zuschauer in diesem Zusammenhang vielleicht das falsche Wort, es ist eine Art Euphemismus; eigentlich geht es vielmehr darum, ob man handlungsunfähig ist oder nicht. Möchtest du den Kaffee oder nicht?«
    »Ich trinke morgens eigentlich immer Tee«, antwortete ich. »Aber dir zuliebe trinke ich

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