Lieben: Roman (German Edition)
vollkommen intakt wirkte. Sie hieß Västertorp, alle Gebäude waren viereckig und aus Backstein und unterschieden sich nur durch ihre Größe voneinander – zu allen Seiten lagen Hochhäuser, entlang der Straßen im Zentrum waren die Häuser flacher, und im Erdgeschoss waren verschiedene Geschäfte untergebracht. Zwischen den Häuserblocks standen regungslos Fichten. Im Licht der zahlreichen Hauseingänge und Fenster tauchten zwischen ihren Baumstämmen, die aus der Landschaft hochschossen, der eine oder andere Hügel, die eine oder andere Wasserfläche auf. Geir redete in einem fort, wie er es auch während der U-Bahn-Fahrt hierher getan hatte. Die meiste Zeit erklärte er mir, was wir sahen. Zwischendurch waren die Namen der einzelnen Stationen genannt worden, die mir so schön und fremd erschienen. Slussen, Mariatorget, Zinkensdamm, Hornstull, Liljeholmen, Midsommarkransen, Telefonplan …«
»Da sind wir«, sagte er und zeigte auf eines der Häuser am Straßenrand.
Wir betraten einen Flur, gingen eine Treppe hinauf und traten durch eine Tür. Bücher in einem Regal an der Wand, dahinter eine dicke Schicht von Jacken an Kleiderhaken in einer Reihe, der Geruch des Lebens fremder Menschen.
»Hallo, Christina, möchtest du unseren norwegischen Freund begrüßen?«, sagte er und lugte in ein Zimmer zur Linken. Ich trat einen Schritt vor. An einem Tisch saß eine Frau und blickte auf, sie hielt einen Bleistift in der Hand, und auf der Tischplatte vor ihr lag ein Bogen Papier.
»Hallo, Karl Ove«, sagte sie. »Freut mich, dich kennen zu lernen. Ich habe viel von dir gehört!«
»Von dir habe ich leider noch nichts gehört«, sagte ich. »Ach so, abgesehen von dem wenigen, was in Geirs Buch steht.«
Sie lächelte, wir gaben uns die Hand, sie räumte den Tisch frei und setzte Kaffee auf. Geir zeigte mir die Wohnung, was schnell erledigt war, denn sie bestand nur aus zwei Zimmern, die beide bis zur Decke mit Bücherschränken gefüllt waren. In dem einen, ihrem Wohnzimmer, gab es eine Arbeitsecke für Christina, in dem anderen, ihrem Schlafzimmer, arbeitete Geir. Er öffnete einen der Schränke und zeigte mir die Bücher darin. Sie standen so gerade, dass man hätte meinen können, er hätte eine Wasserwaage benutzt, und waren in Reihen und nach Autoren geordnet, aber nicht alphabetisch.
»Wie ich sehe, hältst du bei deinen Sachen Ordnung«, sagte ich.
»Ich halte überall Ordnung«, erwiderte er. »Wirklich überall. In meinem Leben gibt es nichts, was ich nicht geplant oder berechnet hätte.«
»Das hört sich furchterregend an«, sagte ich und sah ihn an.
Er lächelte.
»Ich persönlich finde es furchterregend, einem Menschen zu begegnen, der mit einem Tag Vorlauf nach Stockholm umzieht.«
»Ich musste«, sagte ich.
»Wollen heißt wollen müssen«, sagte er. »Wie der Mystiker Maximos in Kaiser und Galiläer sagt. Oder um genau zu sein: ›Was ist das Leben wert? Alles ist Spiel und Tand. – Wollen heißt wollen müssen.‹ Es war das Stück, in dem Ibsen versuchte, klug zu sein. Jedenfalls gelehrt. Er versucht sich darin an einer großen verdammten Synthese. ›Ich trotze der Notwendigkeit!
Ich will ihr nicht dienen. Ich bin frei, frei, frei.‹ Das ist interessant. A hell of a good play, wie Beckett über Warten auf Godot sagt. Ich war wie besessen davon, als ich es las. Er kommuniziert mit einer Zeit, die vorbei ist, die ganze Bildung, die er voraussetzt, ist verschwunden. Das ist verdammt interessant. Hast du es gelesen?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Ich habe keines seiner historischen Stücke gelesen.«
»Es wurde in einer Zeit geschrieben, in der man alles neu bewertete. Das tut er darin. Weißt du, Catilina war das Symbol für den Verrat. Aber Ibsen dreht ihn um. Ungefähr so, als hätten wir Quisling umgedreht. Er hatte echt Schneid, als er das schrieb. Aber all diese Werte, die er auf den Kopf stellt, stammen aus der Antike, und dadurch ist das Stück für uns kaum noch zu verstehen. Wir lesen Cicero ja nicht… Ja-a. Ein Stück zu schreiben, in dem man versucht, Kaiser und Galiläer zu vereinen! Er scheitert, natürlich, aber immerhin auf hohem Niveau. Er ist zu symbolisch. Aber auch kühn. Du siehst, wie sehr er das Große will. Ich glaube Ibsen nicht ganz, wenn er sagt, er habe nur die Bibel gelesen. Schiller spielt hier auch eine Rolle, Die Räuber . Das ist auch eine Art Rebell. Wie Michael Kohlhaas von Heinrich von Kleist. Es gibt da übrigens auch eine Parallele zu Bjørnson. Ist
Weitere Kostenlose Bücher