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Lieben: Roman (German Edition)

Lieben: Roman (German Edition)

Titel: Lieben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
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sagte er über die Lautsprecheranlage! In Schweden völlig undenkbar. Hier identifiziert man sich mit seiner Arbeit. Das ist eine Rolle, aus der man nicht einfach so heraustritt. Es gibt keine Risse in dieser Rolle, es gibt keine Stelle, an der man den Kopf herausstecken und sagen kann, hier kommt das wahre Ich.«
    »Und warum lebst du dann hier?«, sagte ich.
    Er sah mich kurz an.
    »Es ist ein perfektes Land, wenn man seine Ruhe haben will«, antwortete er und ließ erneut den Blick schweifen. »Ich habe nichts gegen das Kalte. Es soll kein Teil meines Lebens sein, aber ich kann gut darin leben, wenn du den Unterschied verstehst. Es ist hübsch anzuschauen. Und es ist praktisch. Ich verachte es, aber ich nutze es auch aus. Also: Wollen wir gehen?«
    »Ja, von mir aus«, sagte ich, drückte die Zigarette aus, trank den letzten Schluck Kaffee, nahm den Mantel vom Stuhl
und zog ihn an, schwang mir den Rucksack auf den Rücken und folgte ihm in die Bahnhofshalle. Als ich auf gleicher Höhe war, drehte er sich zu mir um.
    »Könntest du auf der anderen Seite gehen? Auf dem Ohr höre ich fast nichts.«
    Ich kam seiner Bitte nach. Mir fiel auf, dass seine Füße beim Gehen nach außen zeigten, breit wie eine Ente. Das war etwas, was mir eigentlich immer ins Auge stach. Balletttänzer gehen so. Ich war einmal mit einem Mädchen zusammen gewesen, das Ballett tanzte. Zu den wenigen Dingen, die mir an ihr nicht gefielen, gehörte dieser Gang.
    »Wo hast du dein Gepäck?«, sagte er.
    »Unten«, sagte ich. »Und dann rechts.«
    »Dann gehen wir da drüben runter«, sagte er und nickte zu einer Treppe am Ende der Halle.
    Soweit ich es beurteilen konnte, gab es keinen Unterschied zwischen dem Verhalten der Leute hier und im Osloer Hauptbahnhof. Jedenfalls keinen auffälligen. Die Unterschiede, von denen er gesprochen hatte, schienen minimal zu sein, wahrscheinlich hatte er sie nach vielen Jahren im Exil aufgebauscht.
    »Ich finde, hier sieht es ungefähr so aus wie in Norwegen«, sagte ich. »Hier wird genauso viel gerempelt.«
    »Warte es ab«, sagte er, sah mich an und lächelte. Es war ein ironisches Lächeln, ein besserwisserisches Lächeln. Wenn es etwas gab, was ich nicht ausstehen konnte, dann war es jede Form von Besserwisserei.
    »Sieh mal«, sagte ich, blieb stehen und zeigte auf die Leuchttafel über uns.
    »Was denn?«, sagte Geir.
    »Die Ankunftstafel«, sagte ich. »Deshalb bin ich hergekommen. Genau deshalb.«
    »Wie meinst du das?«, sagte Geir.
    »Schau doch hin. Södertälje. Nynäshamn. Gävle. Arboga. Västerås. Örebro. Halmstad. Uppsala. Mora. Göteborg. Malmö. Das hat etwas unglaublich Exotisches. Schweden. Die Sprache ist fast gleich, die Städte sind fast gleich, wenn man Bilder von ländlichen Regionen in Schweden sieht, dann sieht es aus wie in Norwegen auf dem Land. Abgesehen von Details. Und es sind diese kleinen Abweichungen, diese kleinen Unterschiede, die fast das Vertraute sind, die fast das Gleiche sind, aber eben nur fast, die ich so unglaublich anziehend finde.«
    Er sah mich ungläubig an.
    »Du bist verrückt!«, sagte er.
    Dann lachte er.
    Wir gingen weiter. Es sah mir nicht ähnlich, so etwas aus heiterem Himmel zu sagen, aber ich hatte das Gefühl gehabt, ihm etwas entgegensetzen zu müssen, ihn nicht dominieren lassen zu dürfen.
    »Diese Anziehungskraft habe ich immer schon gespürt«, fuhr ich fort. »Nicht die von Indien oder Burma oder Afrika, den großen Unterschieden, die haben mich nie interessiert. Aber Japan zum Beispiel. Nicht Tokio oder die Großstädte, sondern die ländlichen Regionen Japans, die kleinen Küstenstädte in Japan, hast du gesehen, wie sehr dort die Natur der Natur bei uns zu Hause ähnelt, während die Kultur, also ihre Häuser und Sitten, absolut fremd, absolut unverständlich ist? Oder Maine in den USA. Hast du die Küste dort gesehen? Die Natur sieht aus wie in Südnorwegen, aber alles von Menschenhand Erschaffene ist amerikanisch. Verstehst du, was ich meine?«
    »Nein. Aber ich höre dir zu.«
    »Das war es schon«, sagte ich.
    Wir gelangten in den unterirdischen Gang, auch er voller Menschen, gingen zu den Gepäckfächern, ich zog die beiden
Koffer heraus, und Geir nahm mir den einen ab. Daraufhin begaben wir uns durch diesen Gang zu den etwa hundert Meter weiter liegenden U-Bahnsteigen.
     
    Eine halbe Stunde später gingen wir durch das Zentrum einer Trabantenstadt aus den fünfziger Jahren, das in der von Straßenlaternen erhellten Märzdunkelheit

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