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Lieben: Roman (German Edition)

Lieben: Roman (German Edition)

Titel: Lieben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Ove Knausgård
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hatte.«
    »Warum?«, sagte ich.
    »Weil du so weit gegangen bist. Du bist so unglaublich weit gegangen. Ich war froh, dass du es getan hast, ich habe hier gesessen und vor mich hingelächelt, weil du es geschafft hast. Als wir uns damals kennen lernten, wolltest du Schriftsteller werden. Kein anderer ist auf die Idee gekommen. Nur du. Und du hast es geschafft. Aber deshalb war ich nicht erschüttert. Sondern weil du so weit gegangen bist. Muss man so weit gehen, dachte ich. Und fand es erschreckend. Ich selbst könnte niemals so weit gehen.«
    »Wie meinst du das? In welchem Sinne bin ich weit gegangen? Es ist doch nur ein ganz gewöhnlicher Roman?«
    »Du sagst darin unerhörte Dinge über dich. Vor allem, dass du die Geschichte von dieser Dreizehnjährigen erzählst. Ich hätte nie gedacht, dass du das wagst.«
    Es war, als durchwehte mich ein eisiger Wind.
    »Ich verstehe nicht ganz, wovon du redest«, sagte ich. »Das habe ich frei erfunden. Dafür bezahlt man keinen hohen Preis, falls du das glauben solltest.«
    Er lächelte und sah mir in die Augen.
    »Als wir uns in Bergen kennen lernten, hast du mir von dieser Beziehung erzählt. Du warst in dem Sommer aus Nordnorwegen zurückgekommen, warst aber immer noch ganz erfüllt von dem, was da oben passiert war. Davon sprachst
du. Von deinem Vater und einer Liebe, als du sechzehn warst und dich völlig mit Leutnant Glahn identifiziertest, und dann, dass du eine Beziehung zu einer Dreizehnjährigen hattest, als du in Nordnorwegen Lehrer warst.«
    »Ha-ha«, sagte ich. »Das ist nicht lustig, falls du das finden solltest.«
    Er lächelte nicht mehr.
    »Du willst mir ja wohl nicht sagen, dass du dich nicht mehr erinnerst? Sie ging in deine Klasse, du warst leidenschaftlich in sie verliebt, wenn ich es richtig verstanden habe, aber es war ein Wirrwarr aus allem Möglichen, du meintest unter anderem, dass du auf einem Fest mit ihrer Mutter gesprochen hättest – und diese Szene stand haargenau so, wie du sie mir beschrieben hattest, in deinem Roman. Aber das ist nicht automatisch verwerflich, wenn man weiß, wohlgemerkt, dass das Begehren auf Gegenseitigkeit beruht. Aber woher weiß man das, tja, das ist natürlich eine gute Frage. Das ist das Problem. Ich habe einen Klassenkameraden, der einer Dreizehnjährigen ein Kind gemacht hat, er war allerdings erst siebzehn, während du achtzehn warst, aber what the fuck, das ist nicht der Punkt. Sondern, dass du es geschrieben hast.«
    Er sah mich an.
    »Was ist los? Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen?«
    »Das meinst du doch jetzt nicht ernst?«, sagte ich. »Das soll ich gesagt haben?«
    »Oh ja. Das hast du gesagt. Es steht wie eingemeißelt in meinem Gedächtnis.«
    »Aber das ist doch nicht passiert?«
    »Damals hast du jedenfalls gesagt, es sei passiert.«
    Ich hatte das Gefühl, eine Hand würde mein Herz zusammendrücken. Wie war es nur möglich, dass er so etwas sagte? Konnte ich ein so großes Ereignis verdrängt, einfach fortgeschoben
und völlig vergessen haben? Um es dann später niederzuschreiben, ohne auch nur eine Sekunde zu denken, dass es der Wahrheit entsprach?
    Nein.
    Nein, nein, nein.
    Das war undenkbar.
    Absolut, völlig undenkbar.
    Aber wie konnte er dann so etwas sagen?
    Er stand auf.
    »Es tut mir leid, Karl Ove«, sagte er. »Aber das hast du damals wirklich erzählt.«
    »Das verstehe ich nicht«, erwiderte ich. »Aber du siehst andererseits auch nicht aus, als würdest du lügen.«
    Er schüttelte den Kopf und lächelte.
    »Dann gute Nacht!«
    »Gute Nacht.«
     
    Während aus dem Schlafzimmer hinter der Tür die leisen Geräusche eines Paars an mein Ohr drangen, das zu Bett ging, lag ich mit offenen Augen da und starrte ins Zimmer hinein. Es wurde vom schwachen mondscheinartigen Licht der Straßenlaternen erhellt. Meine Gedanken schossen hin und her und versuchten eine Lösung für Geirs Worte zu finden, während die Gefühle mich bereits verurteilt hatten: So fest hatten sie mein Inneres im Griff, dass es am ganzen Körper wehtat. Ab und zu ertönte ein leises Säuseln, das von der einige hundert Meter entfernten Bahnlinie kommen musste, und darin suchte ich Trost. Darunter lag eine Art fernes Rauschen, und hätte ich es nicht besser gewusst, hätte es sich für mich angehört, als käme es vom Meer. Aber ich befand mich in Stockholm, irgendwo in der Nähe musste es eine große Autobahn geben.
    Ich verwarf das Ganze, etwas so Wichtiges konnte ich einfach
nicht verdrängt haben.

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